Aktuell zeigt sich ein gemischtes Bild für Klimaschutz und Energiewende: Das 1,5 Grad-Ziel ist (fast) gerissen, gleichzeitig verzeichnet Deutschland einen Zuwachs an Strom aus erneuerbaren Quellen. Wie ist dieses Bild zu bewerten – und wie steht es um die Transformation zur Klimaneutralität bei den Kommunen? Eine Zwischenbilanz aus dem Thinktank Agora.

2025 startete mit einer schlechten Nachricht: Die weltweite Erderwärmung hat erstmals die 1,5 Grad-Marke überschritten. Wie ordnen Sie diese Nachricht ein?
Philipp Godron: Es ist in der Tat eine schlechte Nachricht, auch wenn für das Pariser Klimaziel noch ein Hoffnungsschimmer verbleibt: Das 1,5-Grad-Ziel bezieht sich auf einen längerfristigen Zeitraum, da zwischen einzelnen Jahren immer wieder leichte Schwankungen zu verzeichnen sind. Noch ist das Klimaziel also nicht gerissen. Dennoch: Die Nachricht ist ein erneuter eindringlicher Weckruf, Klimaschutz ernst zu nehmen – global und auch in Deutschland.
Einer der Einwände, die nach wie vor ins Spiel gebracht werden, lautet: Deutschland hat weltweit gesehen nur einen geringen Anteil am CO2-Ausstoß. Warum sollte sich Deutschland dennoch ins Zeug legen?
Godron: Der Klimawandel betrifft alle, und Klimaschutz kann nur funktionieren, wenn auch alle mitziehen. Außerdem: Deutschland ist beim CO2-Ausstoß weltweit unter den Top Ten und europaweit der größte Emittent. Auch die Vorbildfunktion sollte man nicht unterschätzen: Viele Akteure weltweit haben einen besonderen Blick auf Deutschland und schauen, ob es hier funktioniert. Und: Deutschland hat sich im Rahmen des Bundes-Klimaschutzgesetzes und auf europäischer Ebene verbindliche Klimaschutzziele gesetzt.
Läuft das aus Ihrer Sicht?
Godron: Derzeit sind wir nicht auf Kurs: Bei einer Verfehlung der europäisch vereinbarten Ziele – und dazu kann es insbesondere in den Sektoren Gebäude und Verkehr kommen – drohen Strafzahlungen an die EU. Dieses Geld könnte man sinnvoller anlegen, nämlich in die Transformation hin zur Klimaneutralität.
Es gab auch gute Nachrichten, die Agora Anfang 2025 veröffentlicht hat: 58 Prozent der Gesamtbruttostromerzeugung in Deutschland kamen im zurückliegenden Jahr aus erneuerbaren Energiequellen, die Treibhausgasemissionen sind zurückgegangen. Wie ordnen Sie diese Zahlen ein?
Godron: Für 2024 ist ein starker Zuwachs bei der Photovoltaik zu verzeichnen. Dazu kam ein beträchtlicher Anteil des Stroms aus Windkraftanlagen – beides sind sehr positive Entwicklungen. 80 Prozent der Einsparungen bei den Treibhausgasemissionen des vergangenen Jahres kamen dementsprechend aus der Energiewirtschaft: Kohlekraftwerke werden stillgelegt, und die erneuerbaren Energien ausgebaut – diese positive Entwicklung muss verstetigt und beschleunigt werden. Demgegenüber steht allerdings eine Zunahme der Treibhausgasemissionen um rund drei Prozent aus der Industrie. Auch in den Bereichen Verkehr und Gebäude gibt es keinen nennenswerten Rückgang der Emissionen – hier besteht noch viel Nachholbedarf.
Wie sollte es weitergehen?
Godron: Generell brauchen wir den Umstieg von fossilen auf strombasierte Lösungen im Verkehr, bei Gebäuden und in der Industrie. Das heißt: E-Autos inklusive eines starken Nahverkehrs und einer guten Infrastruktur fürs Fahrrad. Das heißt ebenso: klimafreundliche Heiztechnologien, zum Beispiel Wärmepumpen, Fern- oder Nahwärmenetze. Und das heißt auch: attraktive Strompreise. Der Strompreis ist nicht der einzige Hebel, aber ein sehr wichtiger – nicht nur für die Industrie, sondern auch, um allen Bürgerinnen und Bürgern den Umstieg auf klimafreundliche Lösungen zu ermöglichen.
Wie steht es um die Industrie – insbesondere um die stromintensiven Branchen?
Godron: Der Anstieg der Emissionen um drei Prozent trotz der wirtschaftlichen Schwäche geht in die falsche Richtung. Tatsächlich gibt es ein großes Potenzial der Industrie, den CO2-Ausstoß struktrell und nachhaltig zu senken.
Wo stehen wir bei der Transformation zur Klimaneutralität?
Im Januar veröffentlichte der Thinktank Agora Energiewende neue Zahlen und Einschätzungen. Unter anderem wurden diese Aspekte hervorgehoben:
- Deutschlands Treibhausgasemissionen sind 2024 deutlich gesunken – sie gingen um 18 Millionen Tonnen beziehungsweise drei Prozent im Vergleich zum Vorjahr auf insgesamt
656 Millionen Tonnen CO2 zurück. - In der Industrie stiegen die Emissionen trotz der wirtschaftlichen Stagnation im vergangenen Jahr um drei Millionen Tonnen CO2 leicht an.
- Im Verkehrssektor wurde nur eine geringfügige Reduktion von zwei Millionen Tonnen CO2 gegenüber dem Vorjahr erreicht – vor allem durch geringeren Lkw-Verkehr infolge der wirtschaftlichen Schwäche. Zugleich stieg aber der Pkw-Verkehr an. Insgesamt verfehlt der Verkehrssektor mit Emissionen in Höhe von 144 Millionen Tonnen CO2 das im Klimaschutzgesetz definierte Jahresziel deutlich um 19 Millionen Tonnen CO2.
Die Transformationsprozesse auch und gerade in der Industrie sind teuer, und hier wird nach wie vor Skepsis geäußert: Kann sich die deutsche Industrie, kann sich Deutschland überhaupt die Energiewende leisten?
Godron: Die Transformation ist eine Mammutaufgabe, und es ist sinnvoll und notwendig, dass der Staat Impulse für eine innovative und wettbewerbsfähige Wirtschaft setzt. In unserer Studie „Klimaneutrales Deutschland“ haben wir ermittelt, dass etwa drei Viertel der bis 2045 anstehenden Investitionen ohnehin – also auch ohne Klimaschutz – anfallen werden. Wichtig ist daher, dass diese „Ohnehin-Investitionen“ in klimafreundliche Bahnen gelenkt werden und die Industrie hier mit ihrer Innovationskraft mitzieht. Denn neue Investitionszyklen stehen immer wieder an – das gilt für die Heizungsanlage in einem Wohnhaus genauso wie für Prozesse in der Stahlproduktion. Und jedes Mal stellt sich die Frage, welchen Weg man einschlägt: kurzfristig vermeintlich günstig oder langfristig resilient und wettbewerbsfähig?
Wo sehen Sie zentrale Hindernisse auf dem Weg der Energiewende?
Godron: Der Themenbereich ist alles andere als neu – und doch fehlt es oft immer noch an Informationen. Was genau bedeuten Transformationen? Was kosten sie – und welche Potenziale, auch welche Einsparpotenziale bieten sie für die Zukunft? Sehr wichtig ist, die Bürgerinnen und Bürger einzubinden, aber auch, Anreize für die Industrie zu setzen. Zudem ist der Staat gefragt – die für die Energiewende erforderlichen Transformationen sind keine Selbstläufer: Sie brauchen finanzielle sowie politische Flankierung und stabile Rahmenbedingungen, die Planungssicherheit bieten.
Wie verläuft aus Ihrer Sicht die Energiewende mit Blick auf die Kommunen?
Godron: Auch hier zeigt sich ein Gesamtbild mit unterschiedlichen Momenten. Viele Kommunen wollen aktiv sein, haben auch schon viel erreicht. Allzu oft aber fühlen sich gerade die kleinen überfordert von den Transformationen: von all dem, was zu leisten ist, was bedacht, berücksichtigt, getan werden muss. Dennoch haben zum Beispiel bereits rund 160 Kommunen eine finale Wärmeplanung veröffentlicht, viele weitere sind auf diesem Weg unterwegs. Dahinter stehen oft sehr gute, transparente Beteiligungsprozesse – die Bürgerinnen und Bürger werden mitgenommen. Wichtig für kommunale Akteure ist es, die Energiewende proaktiv anzugehen, die Chancen zu sehen und auch integriert zu denken: Wärme, Strom, Kraft-Wärme-Kopplung, Fernwärmenetze. Unbedingt prüfen sollten Kommunen, was vor Ort vergleichsweise leicht umzusetzen ist, zum Beispiel die Nutzung öffentlicher Gebäude für Photovoltaik oder auch Beteiligungsmöglichkeiten bei Windparks.
Was fehlt?
Godron: Die Kommunen sind der zentrale Ort für den Erfolg insbesondere von Verkehrs- und Wärmewende. Daher braucht es einen Zukunftspakt zwischen Bund, Ländern und Kommunen, damit Letztere handlungsfähig sind und die Transformation erfolgreich angehen können. Dieser Pakt sollte den Klimaschutz in eine kommunale Pflichtaufgabe überführen und gleichzeitig die entsprechende Finanzierung dieser neuen Aufgabe sicherstellen – insbesondere also eine Erhöhung der kommunalen Ressourcenausstattung. Der Bund ist hier in der Pflicht: Es ist notwendig, den Förderansatz der Gemeinschaftsaufgabe einzuführen. Ebenfalls notwendig ist es, die Einnahmebasis der Kommunen generell zu verbreitern. Wichtig ist, dass Bund, Länder und Kommunen jetzt an einem Strang ziehen, um die gesetzten Ziele noch zu erreichen und das Klima zu schützen.

Zur Person
Philipp Godron ist Programmleiter Strom beim Thinktank Agora Energiewende.
Interview: Sabine Schmidt