Nachhaltigkeit in der öffentlichen Beschaffung hat nicht zu-, sondern abgenommen: Das zeigt eine aktuelle Studie. Woran liegt das? Und vor allem: Wie ist das zu ändern? Antworten von Studienleiter Marc Wolinda.

Sie sprechen von einer Lücke zwischen den politischen Zielen sowie den vergaberechtlichen Möglichkeiten und der Umsetzung. Was heißt das aus Ihrer Sicht?
Marc Wolinda: Mehr noch – die Auswertung der Daten zeigt, dass diese Lücke groß ist und zumindest in den Kommunen in den vergangenen Jahren deutlich gewachsen ist. Gemäß der europäischen TED-Datenbank, die alle Vergaben ab ungefähr 200.000 Euro erfasst, ist der Anteil der Vergaben mit Nachhaltigkeitskriterien von 23,3 Prozent im Jahr 2012 auf 13,7 Prozent im vergangenen Jahr gesunken. Das hat mich sehr überrascht, da im öffentlichen Diskurs die Bedeutung von Nachhaltigkeit in den vergangenen Jahren stetig gewachsen ist.
Wie kommt es dazu?
Wolinda: Den Rückgang als solchen können wir nicht wirklich erklären. Eine Vermutung, die wir von Praktikern gehört haben, ist, dass durch den zunehmenden Personalmangel in den Verwaltungen auf eine „Kann-Vorgabe“ – wie eben die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitskriterien – häufig aufgrund mangelnder Zeit verzichtet wird. Die Ursachen für die generell schwache Berücksichtigung von Nachhaltigkeitskriterien bei Vergaben der öffentlichen Hand können wir dagegen deutlich besser belegen. Das größte Defizit liegt im Professionalisierungsgrad der Beschaffenden in Bezug auf einen nachhaltigen Einkauf. Unsere Auswertung belegt, dass Kommunen mit fast 500 verschiedenen Nachhaltigkeitskriterien operieren. Das zeigt die Komplexität des Themas und erklärt, warum nicht-geschultes Personal schnell an seine Grenzen stößt und in der Folge Nachhaltigkeitskriterien lieber aus dem Vergabeverfahren ausklammert.
Relevanter Faktor
Nachhaltige Beschaffung ist komplex, herausfordernd – und wichtig:
- Das Gesamtvolumen der öffentlichen Beschaffung in Deutschland wird auf 350 bis 550 Milliarden Euro geschätzt. Das entspricht bis zu 16 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP).
- Knapp die Hälfte der Vergaben entfallen auf die Kommunen. Das Vergabevolumen der Kommunen beläuft sich auf knapp 30 Prozent.
- Beim Thema nachhaltige Beschaffung für die Kommunen zentral ist §127 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB). Hier wird geregelt, dass bei Vergaben das wirtschaftlichste Angebot zu wählen ist. Die Wirtschaftlichkeit beruht auf dem Preis-Leistungs-Verhältnis, zu dessen Ermittlung neben dem Preis und den Kosten auch qualitative, umweltbezogene oder soziale Aspekte berücksichtigt werden können.
Die Studie „Nachhaltigkeit in der öffentlichen Beschaffung“ gibt es online zum Download.
Gibt es weitere Ursachen?
Wolinda: Weitere wichtige Ursachen sind fehlende Zielvorgaben und Strategieformulierungen der administrativen und politischen Führung, fehlende Sicherheit in Bezug auf die rechtlichen Vorgaben sowie fehlende nachhaltige Angebote des Marktes. Damit ist auch klar: Fehlender Veränderungswille bei den Beschaffern ist nicht das Kernproblem für die mangelnde Nachhaltigkeit in der öffentlichen Beschaffung.
Welche Rolle spielen Regulierungen, Gesetze und Verordnungen sowie deren Verständnis bei der nachhaltigen Beschaffung?
Wolinda: Die Regulierung nimmt natürlich entscheidenden Einfluss auf die nachhaltige Beschaffung, da es für Verwaltungen ein zentrales Gebot ist, rechtskonforme Vergaben durchzuführen. Mögliche juristische Auseinandersetzungen mit Bietern, die nicht zum Zuge gekommen sind, sollen auf diese Weise vermieden werden. Hier ist eine Vergabe ausschließlich nach dem Beschaffungspreis, wie bei 67 Prozent der Vergaben im vergangenen Jahr, attraktiv, da dieses Kriterium schwer anfechtbar ist. De facto wird damit in vielen Verwaltungen aber die aktuelle Rechtslage nicht umgesetzt, da nach §127 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen das wirtschaftlichste Angebot gewählt werden muss, und das ist nicht immer das unmittelbar günstigste.
Was heißt das genau?
Wolinda: Wirtschaftlichkeit wird im Gesetz als bestes Preis-Leistungs-Verhältnis definiert. Hier müssten also mindestens die Lebenszykluskosten des Produktes berücksichtigt werden. Aber es können eben auch umweltbezogene und soziale Aspekte Berücksichtigung finden. Das Bewusstsein für dieses umfassende Wirtschaftlichkeitsprinzip müsste nach meiner Auffassung in den Vergabestellen viel stärker gefördert werden.
Wie kann das gelingen?
Wolinda: Durch die gezielte Fortbildung von Beschaffenden auf dem Feld nachhaltiger Produkte und Dienstleistungen. Eine weitere wichtige Maßnahme wäre die Entwicklung weitreichender Standards in Bezug auf die Nachhaltigkeit bei typischen Vergaben, sodass nicht jeder Beschaffer bei null anfangen muss.

Welche Rolle spielt der finanzielle Spielraum?
Wolinda: Der finanzielle Aspekt wird häufig als Hürde für mehr nachhaltige Beschaffung ins Feld geführt. Dieses Argument funktioniert aber eben häufig nur dann, wenn ausschließlich der Anschaffungspreis eines Produkts betrachtet wird. Hier sind nachhaltige Produkte tatsächlich häufig teurer. Wird jedoch konsequent das Wirtschaftlichkeitsprinzip unter Verwendung einer Lebenszykluskostenrechnung angewandt, sieht die Lage ganz anders aus.
Inwiefern?
Wolinda: Hier schlagen nachhaltige Produkte in vielen Fällen die konventionellen. Dieser Effekt wird in den kommenden Jahren noch deutlicher werden, wenn der CO2-Preis steigen wird. Das wird meiner Erfahrung nach bei kommunalen Beschaffungen bislang kaum berücksichtigt. Zusammengefasst lohnt sich eine nachhaltige Beschaffung mittelfristig auch finanziell für die Kommunen. Darüber hinaus sehe ich gerade beim Staat auf allen Ebenen eine besondere Verantwortung für die Nachhaltigkeitstransformation. Der Staat kann nicht den Unternehmen immer strengere Auflagen in Bezug auf die Nachhaltigkeit und ihres Reportings machen und sich gleichzeig selbst an dieser Stelle kaum eigene Auflagen auferlegen.
Welche Lösungsmöglichkeiten haben die Kommunen selbst, die Beschaffung nachhaltiger Produkte zu verändern?
Wolinda: Wichtig wäre aus meiner Sicht, in der Kommune zunächst klare und verbindliche strategische Ziele in Bezug auf eine nachhaltige Beschaffung zu setzen. Sie würden den Vergabestellen einen klaren Rahmen geben. Für größere Kommunen schlägt unsere Studie auch die Installation eines „Public Chief Procurement Officers“ (P-CPO) vor, um so die Rolle des Einkaufs aufzuwerten. Zudem gibt es einige Anlaufstellen für Kommunen, um sich in Sachen nachhaltiger Beschaffung beraten zu lassen. Beispiele sind die Kompetenzstelle für nachhaltige Beschaffung des BMI oder in Schleswig-Holstein das Kompetenzzentrum für nachhaltige Beschaffung und Vergabe.
Welche Lösungsmöglichkeiten gehören zu den am einfachsten und schnellsten umsetzbaren?
Wolinda: Bei motivierten Mitarbeitenden die Fortbildung im Bereich nachhaltige Beschaffung. Bei motivierten Führungskräften in der Verwaltung ein Strategieworkshop mit der Definition von Nachhaltigkeitszielen sowie von klaren Prozessen und Verantwortlichkeiten im Einkauf. Und: Sich mit anderen Kommunen vernetzen, um kontinuierlich voneinander zu lernen.
Aktionsfelder im Überblick


Zur Person
Marc Wolinda ist Nachhaltigkeitsexperte und Project Manager für Nachhaltige Soziale Marktwirtschaft bei der Bertelsmann Stiftung. Er ist verantwortlich für die aktuelle Studie „Nachhaltigkeit in der öffentlichen Beschaffung“ der Universität der Bundeswehr München im Auftrag der Bertelsmann Stiftung.
Interview: Birgit Kalbacher