Rampen, breite Türen und abgesenkte Bordsteine sind wichtig, reichen aber nicht: Tillmann Braun schlüsselt auf, inwiefern es auch ums Sehen, Hören und Verstehen geht – und warum Barrierefreiheit neu gedacht werden sollte.

Schon heute leben in Deutschland rund acht Millionen Menschen mit einer schweren Behinderung. Hinzu
kommen viele weitere Millionen mit alters- oder krankheitsbedingten Einschränkungen. Wer nicht betroffen ist, ahnt oft nicht, wo überall Hürden lauern: in der Toilette, im Aufzug, auf dem Smartphone – und im Kopf. Denn das Bild von Barrierefreiheit ist allzu oft noch immer veraltet.
In vielen Städten und Gemeinden sind zwar bauliche Grundlagen der Barrierefreiheit bereits umgesetzt. Rampen, Aufzüge, rollstuhlgerechte Toiletten – all das ist vielerorts Standard. Doch das reicht nicht. Die nächste große Herausforderung sind die versteckten Barrieren: Kommunikationsprobleme, fehlende visuelle Informationen, digitale Hürden.
„Es geht es bei Weitem nicht nur um die Rampe vor der Tür“, sagt auch Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. „Auch Menschen mit Sehbehinderungen, taube Menschen oder Personen mit Hörbeeinträchtigungen, mit kognitiven Einschränkungen und Lernschwierigkeiten haben ein Recht auf Barrierefreiheit.“
Notrufsysteme anders konzipieren
Ein zentrales Beispiel für unsichtbare Barrieren sind Notrufsysteme. In vielen öffentlichen Toiletten oder Aufzügen sind sie ausschließlich sprachbasiert. Für Menschen mit Hör- oder Sprachbeeinträchtigungen bedeutet das: Sie können im Ernstfall keine Hilfe rufen – obwohl es sichere und günstige Alternativen gibt. „Ein Zwei-Sinne-Notrufsystem ermöglicht sowohl akustische als auch visuelle Kommunikation – und ist auch nachrüstbar“, erklärt Adrian Gollasch vom Notrufspezialisten Telegärtner Elektronik.
In Sanitärbereichen wird der Notruf über einen Zugseiltaster ausgelöst. Die anschließende Kommunikation erfolgt entweder über den klassischen Sprachnotruf oder barrierefrei über das eigene Smartphone per Touch-Eingabe. Diese Lösung ist speziell für Menschen mit Hör- oder Sprachbeeinträchtigungen geeignet.
In Aufzügen stehen neben dem Standard-Sprachnotruf zwei Varianten für die barrierefreie Kommunikation zur Verfügung. Der Notruf kann dabei entweder über das eigene Smartphone-Display oder über ein fest verbautes Touch-Display im Aufzug erfolgen.
Alle Varianten leiten den Notruf direkt an eine Zentrale weiter, die genaue Position wird automatisch übermittelt. Da das System eine eigene Mobilfunkverbindung nutzt, sind weder Netzempfang noch eine App erforderlich. „So kann man sich sicher sein, dass Hilfe auf dem Weg ist“, sagt die Deaf Performerin Cindy Klink, die sich mit ihren Darbietungen in Gebärdensprache als Influencerin für Barrierefreiheit engagiert.
Barrierefreiheit bei Notrufsystemen für Kommunen relevant
Neben der physischen Infrastruktur sollten Kommunen auch ihre digitalen Angebote im Blick haben. Webseiten, Formulare, Apps: Vieles ist online, aber nicht für alle zugänglich. Dabei schreibt die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV) bereits seit Jahren vor, dass digitale Angebote barrierefrei sein müssen. Sie gilt ebenfalls für bestehende Angebote – und ausdrücklich auch für Kommunen.
Die Notruf-App „Nora“ zeigt, wie barrierefreie Kommunikation funktionieren kann – zumindest theoretisch. Sie ermöglicht eine stille Notruf-Absetzung über das Smartphone, ideal für Menschen mit Hör- oder Sprachproblemen. Doch in Toiletten oder Aufzügen funktioniert sie nicht, da dort häufig der Mobilfunkempfang fehlt. Umso wichtiger ist es, dass Kommunen auf barrierefreie Notrufsysteme setzen.
Barrierefreiheit ist kein Projekt, das man einmal umsetzt und dann abhaken kann. Sie ist ein Prozess – und ein Zeichen von Weitsicht. Wer heute barrierefrei plant, plant für morgen. Für Bürgerinnen und Bürger, für Angehörige und für eine Gesellschaft, die älter und vielfältiger wird. Oft braucht es dafür nicht einmal große Summen. Wichtiger ist es, genauer hinzusehen – und hinzuhören.
Tillmann Braun
Der Autor
Tillmann Braun ist Fachjournalist mit Schwerpunkt IT und Digitalisierung aus Haiterbach.



