„Ha-Neu“: So lautete die spöttische Abkürzung für Halle-Neustadt in der DDR. Inzwischen feierte die ehemalige sozialistische Modellstadt ihren 60. Geburtstag – und muss auf massive Herausforderungen reagieren. Ein Geburtstagsgruß und eine Einordnung des Wandels aus der Stadtentwicklung in Halle (Saale).

Im vergangenen Jahr gab es einen weiteren runden Geburtstag: Halle-Neustadt feierte am 15. Juli 2024 mit einem Festakt sein 60-jähriges Jubiläum. Bundesbauministerin Klara Geywitz würdigte bei der Feier den Modellcharakter.
Die größte Stadtgründung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg steht seit Jahrzehnten im Fokus thematisch wechselnder Aufmerksamkeit. Als „Sozialistische Stadt der Chemiearbeiter“ und Ikone des Städtebaus der 1960er- sowie 1970er-Jahre genoss das „Brasilia der DDR“ internationales Renommee.
Mit der Wende geriet die sozialistische Utopie in eine dramatische Transformation: Der Wohnstadt der Chemiekombinate ging die Arbeit aus, und die eigenständige Stadt wurde nach Bürgerentscheid 1990 mit Halle (Saale) vereint. „Die Platte“ wurde medial abgewertet als Symbol für den gescheiterten Staat. Gefühlte Realität und Alternativen zur Plattenbauwohnung im Altbau oder Einfamilienhaus führten zu massiver Abwanderung. Die Bevölkerungszahl von 94.000 halbierte sich, jede fünfte Wohnung stand leer.
Stationen des Wandels
Halle-Neustadt „Ha-Neu“ im Volksmund war eine Stadt im Bezirk Halle der DDR. Heute ist Neustadt ein Stadtteil von Halle (Saale).
- 1958 wurde bei einer Konferenz des Zentralkomitees der SED die Ansiedlung von Arbeitskräften in der Nähe der Chemiestandorte der Buna-Werke in Schkopau und der Leunawerke in Leuna beschlossen.
- Am 9. August 1965 zogen die ersten Mieter nach Halle-Neustadt.
- Am 12. Mai 1967 wurde Halle-Neustadt zur eigenständigen und kreisfreien Stadt erklärt.
- 1987 wurde die höchste Einwohnerzahl verzeichnet: 93.931.
- Am 6. Mai 1990 wurde Halle-Neustadt in die Stadt Halle (Saale) eingemeindet. Die Bevölkerungszahl hat sich seitdem etwa halbiert: Im März 2024 lag sie bei 47.270 Einwohnern.
Der Stadtumbau Ost fing diesen Schwund mit dem Rückbau von 5000 Wohnungen sowie von Schulen und Kitas auf. Die 40- und 50-jährigen Gründungsjubiläen markierten eine Dekade des geordneten Rückzugs, des Experimentierens und der Verunsicherung.
Seit 2015 wurde Neustadt zum größten Fluchtzuwanderungsquartier Sachsen-Anhalts: eine erneute Metamorphose. Die Mehrheit der Geflüchteten lebt hier, und die wesentliche Integrationsleistung für die Gesamtstadt wird hier erbracht. Der ausländische Bevölkerungsanteil ist seit 2013 von niedrigen sieben Prozent auf ein Drittel, bei Kindern und Jugendlichen auf 50 Prozent gewachsen.

Ideen, Projekte, Engagement
Mit dem Wandel ist eine starke soziale Segregation mit negativen Folgen verbunden. Zugleich ist aber Bottom-up viel gesellschaftliches Engagement entstanden. Zum Beispiel: das Mehrgenerationenhaus mit Angeboten für alle Altersgruppen; das BIWAQ-Projekt, das mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds Plus (ESF Plus) und des Bundesbauministeriums die Chancen von Bewohnerinnen und Bewohnern in benachteiligten Stadtteilen verbessern soll; oder neue Begegnungszentren wie das Stadtteilzentrum „Passage 13“.
Halle-Neustadt erfindet sich neu
Neustadt ist gelebter Ort erfolgreicher Integration – zum 60-jährigen Jubiläum stellt sich die Situation allerdings facettenreich und widersprüchlich dar.
In diesem Rahmen werden prägende Projekte entwickelt, die an den großen Herausforderungen ansetzen:
- Der Wohnungsbestand ist weitgehend saniert, aber mit zu geringer Vielfalt. Die 57 Quadratmeter-Dreizimmerplattenbauwohnung im einfachen Segment ist prägend und steht für die Monotonie der Erbauungszeit. Modellhafte Umbauten gab es zu wenige. Auf der Abrissbrache zweier Schulen entsteht ein Wohncampus aus Terrassenhäusern mit 352 Wohnungen. Sie bieten modernen Standard mit vielfältigen Grundrisslösungen und großzügigen Terrassen und generieren nach ersten Erfahrungen eine teils überregionale Nachfrage.
- Die Stadtkrone der fünf Scheibenhochhäuser im Zentrum zeugt vom Anspruch der Stadtgründung. Vier leerstehende Wohnheimscheiben bildeten den größten städtebaulichen Missstand Halles. Ziel des Sanierungskonzepts von 2017 und des Strukturkonzepts von 2019 ist die Reaktivierung der Scheiben. 2021 wurde mit „Scheibe A“ als Verwaltungshochhaus ein Impuls gesetzt. „Scheibe C“ wird, inspiriert von den Pariser Architekten Lacaton & Vassal, umgebaut.
- „Zusammenleben 4.0“ unter Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten ist ambitioniertes Projekt einer Genossenschaft: Alte Menschen sollen möglichst lange in Wohnung und Quartier leben. Eine Kaufhalle wird zum Gesundheits- und Pflegezentrum umgebaut, das Freiraumsystem neugestaltet. Wissenschaftliche Partner erproben im Reallabor Innovationen sowie neue Technologien von Prävention und Pflege, Assistenzsystemen und digitalen Applikationen (zum Beispiel das Forschungsprojekt Mobile-S).
- 2023 begannen umfangreiche Denkmalausweisungen in Neustadt. Viele sind stolz auf diese Würdigung allerdings muss sich noch erweisen, ob für unsanierte Gebäude eine denkmalgerechte und wirtschaftliche Sanierungsperspektive besteht.
- Kreative, künstlerische Planungsansätze sind Markenzeichen des Diskurses um Zukunftspfade für Neustadt, zum Beispiel das international beachtete „Hotel Neustadt“ (2003), die IBA Stadtumbau 2010, der „Wettbewerb Zukunftsstadt“, Kaleidoskop Südpark. 2016 begann die Neugestaltung großflächiger Wandkunst durch die Freiraumgalerie, seit 2024 kombiniert mit digitalen Bildungsprojekten der kommunalen Smart City-Strategie.
- Von immenser Bedeutung für die Zukunftschancen der ressourcenarmen Bevölkerung ist Bildung. Die Schulen sind defizitär. Mit dem 2024 gestarteten größten Schulbauprogramm in Deutschland gibt es neue Chancen, denn fast jede Neustädter Schule wird ins „Startchancen-Programm“ kommen. Parallel baut die Stadt den größten Schulstandort zum Campus und Bildungsleuchtturm aus. Ein außerschulisches „Bildungshaus“ mit Schwerpunkt berufsorientierender MINT-Förderung soll entstehen.

Transformationsphase der Stadtentwicklung in Halle-Neustadt
Bei vielen Veranstaltungen zum 60-jährigen Jubiläum war Aufbruchstimmung zu spüren, etwa bei zwei hochkarätigen Fachveranstaltungen: dem Festival „wohn-komplex“ und der Konferenz „Modern Housing Postwar – Cities of Tomorrow“. Diese beiden Veranstaltungen bildeten den Höhepunkt der architekturbezogenen und internationalen Auseinandersetzung zu Halle-Neustadt.
Die Stadtentwicklung in Halle-Neustadt befindet sich inmitten einer neuerlichen Transformationsphase, die mit der starken Auslandszuwanderung 2015 begann und inzwischen erfolgreich mit neuen Stadtentwicklungsprojekten bearbeitet wird. Angesichts der gewaltigen Herausforderungen bleibt jedoch viel zu tun, und es bedarf deutlich mehr Ressourcen, als bisher investiert wurden.
Steffen Fliegner
Der Autor
Dr. Steffen Fliegner ist Projekt- und Prozessmanager Stadtentwicklung in Halle (Saale).