Eine solidarische Innenstadt – offen für alle

Die Innenstädte stehen unter starkem Veränderungsdruck  – und wo bleiben dabei die Bedürfnisse derer, die an den Rändern der Gesellschaft leben? Ein Forschungsprojekt beleuchtet das Thema solidarische Innenstadt und gibt Hinweise für Kommunen zur Gestaltung des öffentlichen Raums.

Solidarische Innenstadt
Weniger Passanten, leerstehende Ladenlokale: Innenstädte müssen sich neu erfinden – und können zugleich verbesserte Angebote und Strukturen entwickeln. Foto: Adobe Stock/Mounir

Immer weniger Menschen suchen die Plätze und Fußgängerzonen in den Innenstädten auf. Einzelhandelsgeschäfte und andere Einrichtungen schließen, selbst in besten Lagen steigt die Leerstandsquote. Angesichts dieser Herausforderungen entwickeln viele Kommunen neue Strategien zur Belebung ihrer Innenstädte. Dabei werden zunehmend auch andere Nutzende als nur diejenigen, die in der Innenstadt einkaufen gehen, berücksichtigt. Zukunftspotenziale bestehen im gastronomischen, kulturellen oder medizinischen Angebot.

Auch öffentliche Räume können einen wichtigen Attraktivitätsfaktor für Innenstädte darstellen, sofern sie von den Nutzenden als attraktiv, sicher und sauber wahrgenommen werden. Zudem werden Innenstädte als Wohnstandorte interessanter. Auch Universitäten bauen ihre Präsenz in den Innenstädten aus, verbessern somit ihre Erreichbarkeit für Studierende und tragen gleichzeitig zu einer Belebung der Innenstädte bei.

Integration marginalisierter Menschen in die Innenstädte

Eine Gruppe von Nutzenden steht bei den Überlegungen einer Neuausrichtung selten im Fokus: Marginalisierte, von Armut betroffene Menschen, die in Innenstädten auf der Straße leben oder dort mit informellen Arbeitstätigkeiten ihr Einkommen erwirtschaften. Bisher sind informelle Arbeitstätigkeiten marginalisierter Menschen in Innenstädten kaum erforscht. Viel spricht dafür, dass innerstädtische Räume für Menschen am Rand der Gesellschaft – ob mit oder ohne Obdach – für die Einkommensgenerierung einen hohen Stellenwert hat. Straßenmusik, Betteln, Pfandsammeln oder der Verkauf von Straßenmagazinen: All dies geschieht vor allem in zentralen städtischen Räumen.

Im Forschungsprojekt MaBIs („Marginalisierte Bevölkerungsgruppen und die solidarische Innenstadt“) nehmen wir diese Gruppen besonders in den Blick und fragen, wie die aktuelle Umgestaltung von Innenstädten genutzt werden kann, um die Raumnutzungsansprüche armer, abgehängter Menschen stärker zu berücksichtigen. Erste Untersuchungen zeigen: Zwischen den genannten Tätigkeiten existieren große Unterschiede, auch wenn viele Menschen mehreren Tätigkeiten gleichzeitig nachgehen. Die soziale Akzeptanz ist beispielsweise für den Verkauf von Straßenmagazinen deutlich höher als beim Betteln oder Pfandsammeln.

Ein möglicher Baustein für eine solidarische Innenstadt: Kostenlose, saubere und sichere öffentliche Toiletten, die Menschen helfen können, die keine Wohnung haben. Foto: Adobe Stock/Vlad Kazhan

Welche Tätigkeit wird wie wahrgenommen?

Viele von denen, die Straßenmagazine verkaufen, schöpfen aus ihrer Tätigkeit neues Selbstbewusstsein und erleben sie als einen ersten Schritt in Richtung Stabilität. Bettlerinnen und Bettler hingegen erleben eine gewisse soziale Abwertung. In vielen Städten ist das sogenannte „aggressive Betteln“ verboten. Pfandsammelnde werden ignoriert oder toleriert, manchmal auch mit sogenannten Pfandringen unterstützt. In der Literatur und in den Medien tauchen allerdings auch Beispiele für repressive Maßnahmen, häufig in halb-öffentlichen Räumen auf, zum Beispiel an Bahnhöfen oder in Shoppingcentern.

Unsere Forschungen zu den Möglichkeiten für eine solidarische Innenstadt stehen derzeit noch am Anfang. Zunächst nehmen wir die Straßenmagazine als wichtige sozialpolitische Stimme auf kommunaler Ebene in Deutschland in den Blick.

In einer Inhaltsanalyse von mehreren 100 Straßenmagazinen wurde deutlich, dass die Veränderungen der Innenstädte punktuell immer wieder auch in diesen Magazinen thematisiert werden. Zahlreiche Artikel zeigen: Raumnutzungsansprüche wie etwa Sicherheit, Schutz vor Kälte oder Hitze, Begegnungsmöglichkeiten oder auch die Nutzung von Sanitätsanalgen sind für marginalisierte Bevölkerungsgruppen von besonderer Bedeutung.

Erste Ansätze für eine solidarische Innenstadtgestaltung

Bereits jetzt existieren wertvolle Ansätze für eine solidarische Innenstadtgestaltung. Der Verzicht auf Anti-Obdachlosen-Architektur kann hier nur als ein erster Schritt gesehen werden. Pfandringe an öffentlichen Müllbehältern stehen zum Beispiel für einen kooperativen Umgang mit der informellen Arbeitstätigkeit des Pfandsammelns. Kostenlose und dennoch saubere und sichere öffentliche Toiletten sowie Trinkwasserspender und konsumfreie Räume, in denen man sich aufwärmen oder vor Hitze schützen kann, sind ebenfalls hilfreich – nicht nur für marginalisierte Menschen, sondern für alle Besucherinnen und Besucher der Innenstädte.


Innenstadt anders denken

Das Forschungsprojekt „Marginalisierte Bevölkerungsgruppen und die solidarische Innenstadt“ (MaBIs) läuft von 2024 bis 2027. Es wird von der VolkswagenStiftung gefördert. Gemeinsam mit den Straßenmagazinen bodo (Bochum/Dortmund) und BISS (München) untersucht das ILS die Umgestaltung von Innenstädten unter Einbeziehung der Stimmen marginalisierter Menschen. Das ILS beteiligt sich zudem an der Entwicklung lokaler Transformationsstrategien.


Viele Strukturen sind längst vorhanden, an Positivbeispielen – auch hinsichtlich der gemeinsamen Nutzung privater Räume – mangelt es nicht. Einige Geschäfte erlauben beispielsweise den Straßenmagazinverkaufenden aus der näheren Umgebung die Nutzung ihrer WC-Anlagen oder das zwischenzeitliche Lagern von Habseligkeiten.

Solche Maßnahmen erleichtern auch die sogenannte „Begegnung auf Augenhöhe“ – es sind kleine und doch wichtige Schritte auf dem Weg zu einer solidarischen Innenstadt. Dennoch: Der Weg ist noch weit.

Lea Fischer, Michael Kolocek


Die Autoren

Lea Fischer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ILS – Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung in Dortmund. Dr. Michael Kolocek ist dort Senior Research Manager und stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe Sozialraum Stadt.


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