Wie können Städte grüner werden, wie kann die Biodiversität wieder zunehmen? Damit beschäftigt sich die Forschungsarbeit „Wilde Klimawand“. Wie sie mit einem innovativen Grünfassadensystem die Vielfalt der Wiesenflora und -fauna in die Vertikale bringt, erklärt Pia Krause vom Fraunhofer-Institut für Bauphysik.

Stadtgrün ist weit mehr als nur ein gestalterisches Element in der urbanen Umgebung. Es leistet einen wichtigen Beitrag zum Wohlbefinden und zur Gesundheit der Stadtbevölkerung, mindert Hitzeinseln, speichert Regenwasser und schafft sowohl Lebensqualität als auch Identität.
Doch das Potenzial städtischer Begrünung geht weit über den Nutzen für Menschen hinaus. Bei entsprechender Planung und Pflege können wertvolle Lebensräume für Pflanzen und Tiere entstehen. Trotz dieser Vorteile fehlt es in vielen Städten an qualitativen Grünflächen. Flächenkonkurrenz und der Bedarf an Bauland führen oftmals zur Verdrängung von Grünräumen. In diesen dicht bebauten und stark versiegelten Stadtbereichen kann die Begrünung von Fassaden eine Möglichkeit bieten, Grün in die verdichtete Stadt zu bringen.
Genau hier setzen die Forschungsarbeiten des Fraunhofer-Instituts für Bauphysik IBP an, in Zusammenarbeit mit dem Institut für Akustik und Bauphysik sowie dem Institut für Landschaftsplanung und Ökologie der Universität Stuttgart und der Helix Pflanzensysteme GmbH. Gemeinsam entwickelt und erprobt das interdisziplinäre Team aus Forschung und Praxis die „Wilde Klimawand“.
Grünfassadensystem mehr für Biodiversität im urbanen Raum
Dabei handelt es sich um ein innovatives Grünfassadensystem, das gezielt die Biodiversität im urbanen Raum fördert. Die „Wilde Klimawand“ zeichnet sich durch die Integration einheimischer Wildstauden und Gräser sowie darauf abgestimmte modulare Habitatsysteme aus, bestehend aus Brut- und Nistplätzen für Wildbienen, Vögel sowie Fledermäuse. Zudem bietet sie eine für Vertikalbegrünungen einzigartige, heterogene Pflanzen- und Strukturvielfalt.
Damit unterscheidet sich der Planungs- und Pflegeansatz der „Wilden Klimawand“ von marktgängigen, konventionellen Grünfassadensystemen. Letztere werden primär aus einem gestalterischen Anspruch heraus geplant und umgesetzt. Aus optischen Gründen werden meist eine geringe Artenvielfalt mit immergrünen Pflanzenarten sowie monospezifische, strukturarme Bedeckungen eingesetzt.

„Wilde Klimawand“ mit unterschiedlichsten Pflanzen
Basierend auf wissenschaftlichen Analysen, verknüpft mit langjährigen, gärtnerischen Erfahrungen aus der Praxis, wurde bei der „Wilden Klimawand“ ein anderer Ansatz verfolgt und erprobt: Auf den etwa 120 Quadratmeter großen Versuchsflächen kamen mehr als 70 unterschiedliche, primär einheimische Pflanzenarten zum Einsatz. Der Fokus bei der Wahl der Pflanzenarten lag auf einer heterogenen Pflanzenzusammensetzung mit wechselndem und für die einheimische Fauna wertvollem Blühvorkommen mit hohem Nektar- und Pollengehalt. Die Pflanzen und Habitatsysteme wurden dabei an die vorhandene Artenvielfalt der Bestandsumgebung angepasst.
„Wilde Klimawand“ zum Weiterlesen
Zum Forschungsprojekt der „Wilden Klimawand“ gibt es einen praxisorientierten Leitfaden für biodiversitätsfördernde und klimaresiliente Grünfassaden. Er kann kostenlos heruntergeladen werden auf: https://www.iabp.uni-stuttgart.de/new_downloadgallery/ Gruene_Strukturen/Leitfaden-fuer-biodiversitaetsfoerdernde-Gruenfassaden.pdf
Auch bei der Entwicklung der Habitate wurde die Erhöhung des Strukturreichtums durch die Integration diverser mineralischer Materialien wie Sand oder Lehmsteilwand sowie organischer Materialien – zum Beispiel Totholz – angestrebt und umgesetzt.
Bereits nach knapp einem Jahr hat sich die floristische Artenvielfalt an der Wand weiter erhöht, da sich eine ökologisch wertvolle Spontanvegetation auf der Wand angesiedelt hat, beispielsweise mit dem Gemeinen Löwenzahn, der Sal-Weide oder der Rauen-Gänsedistel.

Ansiedlung zahlreicher Tiere und Insekten nachgewiesen
Schon wenige Wochen nach der Installation konnten bereits zahlreiche Tiere, darunter viele wichtige Bestäuberinsekten, an der Wand gesichtet werden. Auch die Funktionalität der Habitatsysteme konnte nachgewiesen werden: Neben vielen Nistverschlüssen unterschiedlicher Wildbienenarten sowie dem Ansiedeln der Einheimischen Hornisse wurden brütende Singvögel wie Blaumeise, Amsel und Grünfink in der Wand beobachtet.
Im Rahmen der Forschungen werden die Förderung der Artenvielfalt ebenso wie die Potenziale zur Anpassung an den Klimawandel für Mensch, Flora und Fauna untersucht. So liegt durch die dicht ausgebildete Pflanzschicht an heißen Sommertagen eine Verdunstung von mehr als sechs Litern pro Quadratmeter vor. Bei einer Fläche 120 Quadratmetern sind das bei der „Wilden Klimawand“ über 720 Liter pro Tag. Dies entspricht der Verdunstung von etwa drei gesunden Stadtbäumen.

Ergänzend werden die mikroklimatischen Auswirkungen auf die Anforderungen und Bedürfnisse von Flora und Fauna selbst untersucht. Denn auch Flora und Fauna sind vulnerabel gegenüber den Folgen des Klimawandels. So ist beispielsweise der Mauersegler besonders vom Klimawandel betroffen, da seine Brut sensibel auf hohe Temperaturen in der Bruthöhle reagiert. Durch eine dichte, kühlende Pflanzenschicht rund um die Habitatstrukturen können hohe Temperaturen in der Bruthöhle signifikant verringert. Dadurch wird auch die Qualität für bestimmte Zielarten erhöht.
Das auf zwei sowie drei Jahre angelegte Forschungsprojekt wird vom Stuttgarter Klima-Innovationsfonds und dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) gefördert. Die Vorstellung der „Wilden Klimawand“ fand auf der Messe BAU 2025 vom 13. bis 17. Januar 2025 in München statt.
Pia Krause
Die Autorin
Dr. Pia Krause ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Fraunhofer-Institut für Bauphysik IBP.