2025 ist Chemnitz Kulturhauptstadt Europas. Oberbürgermeister Sven Schulze sieht darin eine große Chance, Brücken zu bauen, die Stadt voranzubringen, sie bekannter zu machen und in einem neuen Licht zu präsentieren.

„C the Unseen“ ist das Motto für die Europäische Kulturhauptstadt Chemnitz 2025. Was ist das Ungesehene – und wie soll es sichtbar werden?
Sven Schulze: Das Motto ist eine Art Metapher für unsere besondere Situation: Chemnitz ist die drittgrößte Stadt Ostdeutschlands, steht aber immer im Schatten von Leipzig und Dresden. Es geht um ungesehene Potenziale der Stadt und der Menschen. Wir wollen Themen abseits des Großstadtaspekts beleuchten – nicht mit einem großen Scheinwerfer, sondern mit vielen kleinen Taschenlampen. Wir haben keine teuren Ausstellungen, Künstler oder Festivals eingekauft, die wie Ufos landen: Es gibt einen Auftritt, und dann sind sie wieder weg. Vielmehr sind es größere und vor allem viele kleinere Projekte, bei denen die Menschen mitmachen können und eingebunden sind. Niederschwellige Kulturangebote, in denen auch die Stadtgeschichte mit ihren Brüchen und Narben sichtbar wird.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Schulze: Etwa ein Drittel der finanziellen Mittel stecken wir in Investitionen, verteilt auf insgesamt 30 sogenannte Interventionsflächen. Das sind öffentliche Plätze über die ganze Stadt verteilt, die umgestaltet werden, viele von ihnen mit Bürgerbeteiligung. Bei den kleineren in den Stadt- und Ortsteilen werden die jeweils zur Verfügung stehenden 325.000 Euro ganz unterschiedlich genutzt: zum Anlegen eines Festplatzes oder Parks, für den Bau eines Aufzugs für den barrierefreien Zugang zu einem Festsaal. Das sind beteiligungsorientierte Projekte, die auch nach dem Kulturjahr bleiben.
Wichtige Impulse durch das Kulturhauptstadtjahr
Was erhoffen Sie sich darüber hinaus vom Kulturhauptstadtjahr 2025?
Schulze: Wesentliche Ziele sind die Verbesserung des Images und der Strahlkraft der Stadt. Wir wollen die Stadt in ihrer Entwicklung voranbringen – hier geht es um Infrastruktur, Investitionen, Verkehrsanbindung, ein zusätzliches Busangebot oder die Stärkung des Tourismus. Das sind wichtige Impulse, die ohne das Kulturhauptstadtjahr in diesem Umfang nicht umgesetzt worden wären. Auch geht es darum, das Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen der Chemnitzer zu stärken.
Das ist die Wirkung nach außen – und wie steht es um die Wirkung vor Ort?
Schulze: Für die Stadt und die Region ist die Kulturhauptstadt ein wesentlicher Motor für eine engere Zusammenarbeit. So hat der Bewerbungs- und Umsetzungsprozess zu regelmäßigen Bürgermeistertreffen geführt, bei denen der 250.000-Einwohner-Oberbürgermeister Sven Schulze genauso wichtig ist wie der 5000-Einwohner-Bürgermeister Sylvio Krause aus Amtsberg. Wir wissen, dass wir nur gemeinsam erfolgreich sind. Über die Kultur lernen wir uns jetzt besser kennen und versuchen, eine gemeinsame Identität zu schaffen. Ausdehnen lässt sich eine solch engere Zusammenarbeit auch etwa auf Infrastruktur, Verkehr, Stadtentwicklung und Bildung.
Mit Kulturangeboten Brücken in der Gesellschaft bauen
Hoffen Sie außerdem auf mehr Nähe darüber hinaus?
Schulze: Wir hoffen, dass auch die Menschen in Chemnitz und in der Region zusammenfinden. Das Erzgebirge ist anders als Chemnitz, hinzu kommen die einzelnen Landkreise, jeder mit seiner eigenen Identität. Wir haben uns bewusst für niederschwellige Kulturangebote entschieden, um diese Kategorien auflösen. Beispielsweise gibt es das Projekt „Gelebte Nachbarschaft“, bei dem Bäume gepflanzt und Verantwortung für das Wohnumfeld übernommen wird. Dabei lernen sich bislang unbekannte Nachbarn kennen, schaffen gemeinsam etwas und können neue Sichtweisen entdecken. Das Ziel ist es, über die Kulturangebote Gräben in der Gesellschaft zuzuschütten.
… durch aktives Tun und persönliche Erfahrung. Das gilt für die Chemnitzer Bevölkerung ebenso wie für die Touristen, die zum Kulturhauptstadtjahr kommen.
Schulze: Viele Menschen in Deutschland und Europa, aber auch hier in der Region haben von Chemnitz ein Bild, das sich aus Berichten und Erfahrungen aus zweiter oder dritter Hand zusammensetzt. Durch ihren Besuch erleben Gäste die Stadt dagegen aus erster Hand – das ist ehrlicher und nachhaltiger und kann das Image von Chemnitz verändern. Genauso ist es mit der Nachbarschaft: Nicht übereinander, sondern miteinander reden.
Welche Chancen sehen Sie, dass sich mit dem Kulturhauptstadtjahr Chemnitz‘ Vergangenheit weiter aufarbeiten und zusammenwachsen lässt?
Schulze: Es ist eine gute Chance, Dinge aufzuarbeiten, über die in der Vergangenheit hinweggegangen wurde. Wir fragen häufig, warum die AfD im Osten so stark ist. Ich glaube, dass Lebenserfahrungen, Lebensleistungen und Biografien im Zuge der politischen Wende und was danach kam, entwertet und weggewischt worden sind. Dabei wird oft verdrängt, dass es auch um individuelle Lebensleistungen ging.
Eine osteuropäische Stadt in einem westeuropäischen Land
Eine Besonderheit der Stadt ist ihre Nähe zur osteuropäischen Kultur.
Schulze: Dazu gab es im Bewerbungsbuch den ikonischen Satz: „Chemnitz ist eine osteuropäische Stadt in einem westeuropäischen Land“. Wir liegen 150 Kilometer von Prag, die polnische Grenze ist nicht weit und wir haben was Architektur, Kultur, Bildungswesen und die Einstellungen betrifft viel mit den osteuropäischen Ländern gemeinsam. Zum Beispiel öffnen beim Garagenprojekt die Chemnitzer ihre Garagen und zeigen, was sich dort entwickelt hat und dass es für sie viel mehr ist, als ein Autoabstellplatz. Wenn ich in Polen oder Bulgarien über Garagen rede, wissen die Leute genau was gemeint ist. Auf der anderen Seite haben wir als Teil des vereinten Deutschlands 35 Jahre westeuropäische Demokratiegeschichte und -erlebnis mit allen Höhen und Tiefen – Demokratie, Wahlen und Dinge, die erst in den 2000ern nach Osteuropa gekommen sind. Deshalb sehen wir uns in einer Art Brückenfunktion, um Erfahrungen zusammenzubringen, voneinander zu lernen und nicht nur übereinander zu urteilen.
Worin lag und liegt die große Herausforderung im Kulturhauptstadtjahr?
Schulze: Die große Herausforderung war, die Bevölkerung vom Thema und vom Titel Kulturhauptstadt Europas 2025 zu überzeugen und sie zu begeistern. Im Vorfeld fehlte die Vorstellung von dem, was kommen wird. Dabei war die Erfahrung anderer Kulturhauptstädte sehr wichtig, die uns gesagt haben, dass die Leute in der Regel erst im Kulturjahr realisieren, was Kulturhauptstadt bedeutet.
Was war der bisher größte Erfolg?
Schulze: Der größte Erfolg ist, dass der Name Chemnitz den Leuten in Deutschland und Europa jetzt etwas sagt. Angefangen hat das mit dem fulminanten Eröffnungswochenende am 18. Januar. Besucherinnen und Besucher bekamen direkt vor Ort einen Eindruck von Chemnitz und unseren Ideen für das Jahr, die Medien haben die Stadt ins Rampenlicht gestellt. Chemnitz ist sichtbar geworden. Ein Erfolg, der jetzt schon deutlich ist und hoffentlich bleibt.
Erfolgreiche Eröffnung der Kulturhauptstadt Chemnitz
Wie lautet Ihre Zwischenbilanz nach den ersten drei Monaten?
Schulze: Was wir neben der zunehmenden Aufmerksamkeit konkret sehen, ist eine wachsende Zahl an Besuchern in der Stadt, die Hotels sind besser ausgelastet, die Ausstellungen toll besucht und wir haben Buchungen für Tagungen und Kongresse, die wir vorher nicht hatten. Wir hatten ein sehr erfolgreiches und schönes Eröffnungswochenende und ab Ende März, als das Wetter wieder besser wurde, ging es dann so richtig los. Wir sehen vor allem Zuspruch im Radius von 200 Kilometer um Chemnitz herum. Das sind die klassischen Tagestouristen. Aber wir stellen auch fest, dass durch die Berichterstattung über die Kulturhauptstadt Anfragen aus ganz Deutschland und Europa kommen, die gezielt neugierig auf Chemnitz sind.
Wie sieht es mit der Begeisterung bei den Chemnitzern selbst aus?
Schulze: Bei unserem Lackmustest, am Eröffnungswochenende, waren 80.0000 Besucher bei den Veranstaltungen dabei. Ich glaube, dass davon 99 Prozent der Chemnitzer mit Stolz erzählen. Ein guter Indikator sind zudem die Freiwilligen, die die Kulturhauptstadt unterstützen wollen. Wir sind mit ein paar wenigen gestartet, inzwischen haben wir mehr als 1000. Das zeigt: Das Kulturhauptstadtjahr kommt bei den Menschen hier vor Ort an.
Highlights in der Kulturhauptstadt Chemnitz
Mehr zum Programm der Europäischen Kulturhauptstadt Chemnitz 2025 gibt es auf https://chemnitz2025.de
Die Europäische Kulturhauptstadt Chemnitz wird als Stadtentwicklungsprojekt gedacht. Mehr dazu gibt es online:
www.chemnitz.de/de/unsere-stadt/stadtentwicklung/ interventionsflaechen
Weitere Infos zur Hallenkunst in Chemnitz gibt es auf https://www.hallenkunst.de/de
Welche Veranstaltung begeistert Sie persönlich am meisten?
Schulze: Eine ganz schwierige Frage für einen Oberbürgermeister. Wir haben einen sehr breiten Kulturbegriff, der nicht nur Musik, Bildende Kunst, Konzerte und Performance umfasst. Bei uns gehören auch Sport und beispielsweise der Chemnitz Fire Cup 2025 dazu, bei dem sich Jugendfeuerwehren aus ganz Europa messen. Es freut mich, dass wir Events haben, bei denen Menschen Teil dieses Erfolgs und dieser Bewegung werden. Ich bin außerdem angetan von Bewegungen, die ihre Wurzeln in Chemnitz hatten und nach Jahren, manchmal Jahrzehnten wieder zurückkommen. In den 2000er Jahren gab es eine Urban Art-Szene in Chemnitz, die dann nach in andere Städte abgewandert ist. Bei der Wiederauflage der „Hallenkunst“ im Herbst geht es jetzt, 15 Jahre nach der ersten Auflage, wieder um Street Art in Chemnitz. Dabei gestalten namhafte Künstler in der Stadt Flächen, und es wird in der alten Markthalle einen Ausstellungsraum geben, teils auch mit Installationen und Digitalkunst.
Ein wertvolles Jahr für die Kulturhauptstadt Chemnitz
Was erhoffen Sie sich, was vom Kulturhauptstadtjahr für Chemnitz bleibt?
Schulze: Ich hoffe auf ein besseres Bild und Image von Chemnitz. Sowohl nach Innen, bei den eigenen Bürgern, als auch nach außen bei denen, die Chemnitz besucht und kennengelernt haben. Und trotz aller Probleme und Herausforderungen, die es gibt, dass wir Kraft und Energie aus so einem erfolgreichen Jahr ziehen. Es waren ja viele Jahre Vorbereitung. Ich wünsche mir, dass wir viele Dinge haben – das können Investitionen, Projekte oder Bewegungen sein –, die mit dem Kulturhauptstadtjahr anfangen und sich weiterentwickeln. Für mich ist ein wesentliches Ziel, dass man nach dem Kulturhauptstadtjahr sagen kann: Es war ein wichtiges und wertvolles Jahr für die Stadt und nicht nur ein einmaliges Feuerwerk.
Welche Tipps können Sie anderen Städten und Gemeinden für ähnliche Projekte an die Hand geben?
Schulze: Es braucht einen langen Atem und es gibt auch Täler – etwa nach der ersten Euphorie, wenn man so einen Titel gewinnt oder den Zuschlag bekommt und erst einmal scheinbar nichts passiert. Weil vieles in der Vorbereitung eines solchen Titels zunächst im Hintergrund abläuft. Das bekommt nicht jeder in der Stadt mit und hat dann das Gefühl, da passiert ja nichts. Deshalb sind Kommunikation und Erwartungsmanagement ein wichtiger Punkt. Da wir das Glück hatten, sehr frühzeitig im Rahmen einer Finanzierungsvereinbarung mit Land und Bund eine finanzielle Basis zu haben, konnten wir unsere Planung am Budget ausrichten. Ebenfalls wichtig ist es, die Engagierten in der Stadtgesellschaft zu stärken, die bereit sind, den Extrameter mitzugehen, und die Zeit nicht mit Dauerkritikern zu verschwenden. Denn am Ende haben Sie nur einen Energieakku. Zum Schluss noch eine alte kommunalpolitische Lehre: Als Oberbürgermeister müssen Sie sich persönlich einbringen. Nicht, wenn es darum geht, welcher Künstler wo auftritt, aber Sie müssen Rückendeckung geben und bereit sein, im Zweifel auch einmal etwas zu entscheiden, was sonst niemand entscheiden kann oder will.

Zur Person
Sven Schulze (SPD) ist Oberbürger-meister der Stadt Chemnitz.
Interview: Birgit Kalbacher