Die gesamte bisherige Lärmschutzpolitik ist nicht wirkungsgerecht, weil der Schall nicht am Entstehungsort selbst reduziert wird. Effektiver Lärmschutz ist möglich, wenn sowohl Emissionsgrenzwerte für die Quellen wie auch Immissionsgrenzwerte für die Einwirkungsorte berücksichtigt werden.
Durch die zentrale Lage und die boomende Industrie ist Verkehrslärm in Deutschland zu einem der wichtigsten Schutzthemen geworden. Vor allem, weil Verkehrslärm in diesem Ausmaß nicht zu sein braucht und so auch noch nie erlebt wurde. Ähnlich wie die Abgasbelastung, die viel zu hoch ist, weil Industrie und Politik offenbar den notwendigen Schutz von Mensch und Umwelt immer noch nicht erkannt haben.
Das Thema Immissionsschutz, das Mitte der 70er-Jahre noch zu den „Nice to have“-Innovationen erster umweltpolitischer Ansätze gehörte, wurde damals unter dem Gesichtspunkt der Lästigkeit und des Komforts gesehen, obwohl der Sachverständigenrat für Umweltfragen schon Ende der 70er-Jahre auf die gesundheitsschädigende Wirkung hinwiesen hat. Dennoch ist man bis heute der Auffassung, dass Lärmschutz auf Freiwilligkeit beruhen muss und nur in dem Maße gewährt werden kann, wie haushaltspolitische Mittel vorhanden sind. Entsprechend wurden die Gesetze ausgelegt und Verordnungen gestaltet oder auch verweigert, wie zum Beispiel die Festlegung von Grenzwerten für Fahrzeuge des Schienenverkehrs.
Aus dieser Logik heraus ist dann auch die sektorale Lärmbetrachtung (getrennt nach Verkehrsarten) und eine gemittelte Lärmpegelbewertung entstanden. Dabei geht es nicht um die Frage, wie gesundheitsschädlich Lärm ist und ob die Schwelle zur Gesundheitsgefährdung überschritten wird. Ganz im Gegenteil wollte und will man diese Diskussion erst gar nicht aufkommen lassen, sondern lediglich einen für die haushaltspolitische Verteilung freiwilliger Mittel tauglichen Schlüssel finden.
Sektorale Lärmbetrachtung überwinden
Diese, nicht am Schutzziel orientierte Immissionsschutzpolitik hat dazu beigetragen, dass der Lärm mit zunehmenden Verkehrsaufkommen überproportional angewachsen ist, technisches Gerät und Fahrzeuge überaltert sind und nicht dem Stand des Wissens und der Technik entsprechen. Auch Verkehrswege und Brücken sind inzwischen in einem maroden Zustand, weil entsprechende Qualitätskriterien fehlen. Daher kommt es nicht zu der beabsichtigten Verbesserung der Gesamtlärmsituation, sondern die Lärmsituation in Deutschland erreicht – entgegen der Intension des Immissionsschutzgesetzes – ein nie gekanntes Ausmaß.
Die grundrechtliche Schwelle zum Schutz von Gesundheit und Eigentum ist vielerorts überschritten. Das kann im Klagefall dann zu den oft befürchteten Fahrverboten oder Tempolimits führen und damit den Verkehr in Deutschland noch tiefer ins Chaos stürzen. Verkehrslärm ist die Spitze eines Eisberges von technischen Mängeln und Fehlern aus einer rückständigen Technologie, die vor allem auf fehlende Vorschriften zurückzuführen ist.
Der Supergau droht aber aus einem anderen Grund: Die Mediziner haben inzwischen nachgewiesen, dass die Lärmbelastungen in hohem Maße gesundheitsschädigend sind. An Eisenbahnlinien wie im Rheintal reicht selbst eine sektorale Betrachtung für die Überschreitung der Schwelle zur Gesundheitsgefährdung. Der überwiegend nächtliche Schienengüterverkehr liegt selbst unter Zugrundelegung gemittelter Durchschnittspegel bei über 70 dB(A), teilweise bis zu 80 dB(A). Real werden hier nachts bis zu 110 dB(A) Lmax gemessen.
Werden jetzt noch die akustische Verbindung beider Rheinseiten sowie zwei Bundesstraßen und der Rhein als Europas meistbefahrene Wasserstraße hinzugerechnet, ist die Schwelle zur Gesundheitsgefährdung in einem medizinisch nicht mehr vertretbaren Maße überschritten. So die Ansicht von Prof. Manfred Spreng von der Universität Erlangen. Diese Auffassung teilen inzwischen fast alle Wissenschaftler. Prof. Göran Pershagen von der Universität Stockholm hat auf der Konferenz „Lärm in Europa“ in Brüssel kürzlich noch einmal verdeutlicht, dass bei mehreren gleichzeitig auftretenden Lärmquellen das Erkrankungsrisiko exponenziell ansteigt.
Untermauert wird die Tatsache einer übermäßigen gesundheitlichen Belastung im Rheintal durch eine Prognose des Epidemiologen Prof. Eberhard Greiser sowie aktuell durch eine Anwohnerbefragung des Bürgernetzwerks Pro Rheintal. Danach sind fast alle Befragten von Schlafstörungen betroffen. Als Krankheiten werden die für Lärmstress typischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen und andere stressbedingte Krankheiten wie Magen-Darm-Erkrankungen, Depressionen und Allergien genannt. Die Befragung findet derzeit auch bundesweit statt und wird im kommenden Frühjahr veröffentlicht.
Im konkreten Einzelfall können zwar solche Erkrankungen auch auf andere Ursachen zurückzuführen sein. Aus dem Gesamtzusammenhang des Fragebogens und der Übereinstimmung von vielen tausend Betroffenen lassen sich jedoch eindeutige Lärmprofile der Betroffenheit ableiten sowie eine Zuordnung entsprechender Krankheiten. Die Gerichte haben bisher argumentiert, dass keine summative Berechnung vorgeschrieben werden kann, solange keine gesundheitsgefährdende Wirkung einzelner Lärmpegel zu erkennen sei. Die Gesamtlärmermittlung widerspreche offensichtlich dem Willen des Verordnungsgebers, der die öffentlichen Haushalte dadurch überfordert sieht.
Schallminderung an der Quelle
Nach Auffassung der Fachleute und Lärmschutz-Initiativen ist die gesamte bisherige Lärmschutzpolitik nicht wirkungsgerecht und effizient, weil man versäumt hat, den Schall an der Quelle zu verhindern. Intensiver Schall, wie der von Eisenbahnen, schnell fahrenden Kraftfahrzeugen oder von Flugzeugen, ist kaum noch aufzuhalten, nachdem er in der Luft oder im Boden ist. Deshalb ist die Lärmreduzierung dann auch sehr viel aufwendiger. Demgegenüber könnte der Lärm an der Quelle, das heißt an den Fahrzeugen und Flugzeugen selbst, oft mit einfachen Maßnahmen um die Hälfte oder mehr reduziert werden. Deshalb muss sich ein effektiver Lärmschutz einerseits aus Emissionsgrenzwerten für die Quellen und andererseits aus Immissionsgrenzwerten für die Einwirkungsorte zusammensetzen.
Der Gesetzgeber sollte als Erstes klare Grenzwerte für Fahrzeuge, Schiffe und Flugzeuge festlegen. Eine Übergangszeit ist nach 40 Jahren Untätigkeit abgelaufen. Die Vorschriften müssen innerhalb kürzester Zeit rechtswirksam in Kraft treten und mit entsprechenden Zuschüssen und Nachlässen bei Gebühren unterstützt werden.
Für den Immissionsschutz muss die Berücksichtigung aller Lärmquellen gelten. Hierbei müssen die Maximalpegelereignisse und Schallereignisse mit besonders störender und aufweckender Charakteristik (vor allem nachts) zusammen mit den von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vorgegebenen Grenzwerten überwacht werden. Hierzu müssen neben den Maßnahmen an den Fahrzeugen weitere Immissionsschutzmaßnahmen getroffen werden, um den Verkehrsfluss nicht zu gefährden. Wer nachts dann nicht leiser sein kann als 45 dB(A), gemessen am Fenster der Betroffenen, darf in diesem Zeitraum nicht fahren.
Der Schutz der Gesundheit des Menschen ist eng verbunden mit einem technisch und wirtschaftlich funktionierenden Verkehrssystem. Es ist die Aufgabe der Politik, durch entsprechende Vorschriften beides zu gewährleisten.
Frank H. M. Gross
Der Autor
Frank H. M. Gross ist Erster Vorsitzender des Bürgernetzwerks Pro Rheintal mit Sitz in Boppard