Der Wandel der Energiewirtschaft verlangt von den Versorgungsunternehmen, neue Geschäftsmodelle zu schaffen. Der Vertrieb muss die Schnittstelle zum Kunden ständig weiterentwickeln. Dafür werden Mitarbeiter benötigt, die das Silo-Denken überwinden und mit externen Partnern kooperieren können.
Versorgungsunternehmen stehen vor der Herausforderung, digitale Geschäftsmodelle für eine Welt der verteilten und erneuerbaren Energieerzeugung zu entwickeln sowie flexible und durchgängig integrierte Informationssysteme aufzubauen. Über diesen Punkt herrscht in den Branchenverbänden, der Politik sowie den einschlägigen Beratungshäusern weitgehend Einigkeit. Der eigentliche Zweck dieser Transformation wird jedoch übersehen: Es gilt die Bedürfnisse der Kunden zu befriedigen.
Branchen, die einen vergleichbaren Transformationsprozess durchlaufen, wie der Finanzdienstleistungssektor oder der Einzelhandel, zeigen eindrucksvoll wie durch eine zielgenaue Kundenausrichtung neben Neukundenakquise und Bestandskundenbindung eine höhere Prozesseffizienz und Umsatzsteigerung realisiert werden können. Für die Versorgungswirtschaft wird die konsequente Kundenausrichtung eine Zäsur bedeuten: Sie muss sich von der klassischen Vorstellung von Energie als Commodity-Produkt (standardisierte Handelsware) verabschieden. Zukünftig sind nicht nur rasch aufeinander folgend neue Produkte und Dienstleistungen, sondern komplette Strategien für die Entwicklung der Kundenbeziehung immer wieder neu zu entwickeln und zu testen.
Die mit Modebegriffen wie Digitalisierung oder digitale Transformation verbundene Veränderung ist erstens gekennzeichnet durch die rapide steigende analytische Leistungsfähigkeit von Anwendungen (Big-Data-Technologien, Machine-Learning) bei gleichzeitig schnell fallenden Preisen. Zweitens verbessert sich die Ende-zu-Ende-Durchgängigkeit von Informationssystemen durch eine wachsende Interoperabilität der Systeme. Durch Entwicklungen wie eine kostengünstige Anbindung von Dingen an das Internet (50 Milliarden Geräte bis zum Jahr 2030) erhöht sich auch die Reichweite von Anwendungen dramatisch. Und drittens könnte sich die Blockchain-Technologie als „Game Changer“ sowohl im Netz- als auch im Handelsbereich erweisen. Sie verspricht unter anderem kostengünstige und sichere Mikrotransaktionen wie zum Beispiel den direkten Energiehandel zwischen Nachbarn. Alle drei Entwicklungen setzen die klassische Wertschöpfung in der Energiewirtschaft unter erheblichen Veränderungsdruck.
Messdaten gewinnen für den Vertrieb an Bedeutung
Die Auswirkungen der skizzierten Änderungen werden auch für Stadtwerke unmittelbar spürbar. So kann das sogenannte intelligente Messwesen den Energievertrieben detaillierte Verbrauchsdaten liefern. Anders als beim Netzbetreiber, der den Messstellenbetrieb heute in aller Regel (noch) verantwortet, können diese Daten vom Vertrieb genutzt werden, um Beschaffungsstrategien zu rationalisieren, Bilanzkreisoptimierung zu betreiben oder Cross-Selling-Potenziale zu identifizieren.
Der Messstellenbetrieb wird voraussichtlich zum Ziel anderer Versorger oder weiterer Parteien werden. Ist die Schnittstelle zum Kunden einmal verloren, besteht kaum Aussicht, diese zurückzugewinnen und datenbasierte, neue Geschäftsmodelle entwickeln zu können. Darüber hinaus wird auch der klassische Netzbetrieb zukünftig veränderte Anforderungen an die Qualifikation der Mitarbeiter stellen. Nur wer lernt mit den Energiedaten zu arbeiten und mit Analyse-Software zur besseren Auslastung des Netzes umgehen kann, wird den Mehrwert auch mittelfristig sichern können.
Personalmanagement im Umbruch
Was heißt das alles konkret für Personalverantwortliche in kommunalen Unternehmen? Wie ist das Recruiting, die Personalentwicklung und das strategische Personalmanagement anzupassen? Was sind die wesentlichen, neuen Kompetenzen, die gesucht werden? Und wie soll eine attraktive Arbeitgebermarke entwickelt werden, die hilft die Kosten am Beschaffungsmarkt zu senken? Der erste Schritt zur Beantwortung dieser Fragen kann der Abgleich von benötigten und vorhandenen Kompetenzen sein.
Der Vergleich mit den Sektoren Finanzdienstleistung und Einzelhandel ist erneut hilfreich. Eine konsequente Kundenausrichtung macht den Abschied vom existierenden Silo-Denken im Unternehmen erforderlich. Mitarbeiter bei Stadtwerken müssen demnach systematisch über die Grenzen des Netzes, der Erzeugung und des Energievertriebs hinausdenken. Themen wie Marktdesign, intelligentes Messwesen, Anreizregulierung, Energierecht, Beschaffung, Nachfragesteuerung und virtuelle Kraftwerke müssen von Mitarbeitern ansatzweise durchdrungen sein, wenn neue Produkte wie differenzierte Stromtarife oder gar ein Community-Stromhandel entwickelt werden sollen.
Zielführend ist die vermehrte Einstellung sowie Aus- und Weiterbildung von Mitarbeiter, die die „richtigen“ Fragen stellen können. Industrien mit kurzen Produktlebenszyklen sind es gewohnt, die eigene Wertschöpfungsstufe ständig zu hinterfragen. Immer mehr Mitarbeiter müssen demnach die Fähigkeit aufweisen, Produkte und Dienstleistungen Ende-zu-Ende und unabhängig von den Interessen einzelner Organisationseinheiten zu visionieren und flexibel mit externen Partnern zusammenzuarbeiten (Make or Buy). Ändert sich die Strategie, kann schließlich auch eine Änderung der Organisationsstruktur zweckmäßig sein. Optionen sind hierbei unter anderem Ansätze wie „Überholspur“ oder „Zwei Geschwindigkeiten“. Hiermit können existierende Hierarchien und Prozesse im Unternehmen bei der Entwicklung von neuen Produkten gezielt umgangen werden.
Jens Strüker
Der Autor
Prof. Dr. Jens Strüker ist Geschäftsführer des Instituts für Energiewirtschaft (INEWI) und Süwag-Stiftungsprofessor für Energiemanagement an der Hochschule Fresenius in Frankfurt am Main. Er verantwortet als Studiendekan den berufsbegleitenden Master Digitales Energiemanagement sowie die einzeln und frei zugänglich zu studierenden Microdegrees DataScience und Blockchain