In Teilhabeprozessen können Bürgerinnen und Bürger Einfluss nehmen und sich für ihr direktes Umfeld engagieren. Wie aber finden sie zusammen? Welche Erfahrungen gibt es, von denen andere sich anregen lassen können? Antworten aus der Allianz für Beteiligung, die in Baden-Württemberg aktiv ist.

Bürgerbeteiligung im Sinne der aktiven Mitwirkung von Bürgerinnen und Bürgern an politischen Entscheidungsprozessen fördert den sozialen Zusammenhalt, erhöht die Akzeptanz von Entscheidungen und stärkt das Vertrauen in die Demokratie. Während die Etablierung von Beteiligungsformaten auf Bundesebene trotz vielfacher Bemühungen weiterhin stockt, erweisen sich Kommunen seit Jahrzehnten als Motor und Kreativlabor partizipativer Prozesse.
Ob bei allgemeinen Fragen zur Stadtentwicklung („Wie wollen wir in Zukunft miteinander leben?“) oder bei konkreten Mobilitätsprojekten („Fußgängerzone: ja oder nein?“), bei der Einrichtung von Quartierszentren oder Austauschformaten zu Themen des gesellschaftlichen Zusammenhalts: Vor Ort werden Ideen generiert, Argumente ausgetauscht und Projekte umgesetzt. Hier ist Demokratie konkret erfahrbar.
Bürgerbeteiligung in baden-württembergischen Kommunen
Baden-Württemberg gilt bundesweit als Vorreiter in Sachen Bürgerbeteiligung. Über die letzten Jahre haben nicht nur Großstädte wie Stuttgart und Freiburg, sondern auch viele kleinere Kommunen wie Herrenberg, Mengen oder Sulz am Neckar Beteiligungsprozesse fest etabliert. Eine Umfrage von 2024 zeigt: Drei Viertel aller Kommunen haben in den letzten fünf Jahren freiwillige, nicht gesetzlich vorgeschriebene Verfahren durchgeführt.
Diese Entwicklung stützt sich auf nachhaltige Strukturen auf Landesebene. Neben der Stabsstelle für Bürgerbeteiligung und Zivilgesellschaft zählen dazu die Servicestelle für dialogische Beteiligung und die Allianz für Beteiligung.
Während die Servicestelle Kommunen bei Planung und Durchführung unterstützt – etwa durch Beratung oder die Abwicklung von Vergabeverfahren –, übernimmt die Allianz für Beteiligung die Rolle einer Brückenbauerin zwischen Verwaltung, Politik und Zivilgesellschaft. Sie berät Bürgergruppen, vernetzt Akteure und bietet praxisnahes Know-how. Wichtig ist ihr niedrigschwelliger Zugang: Auch Initiativen ohne Rechtsform können Fördermittel beantragen, um Ideen schnell umzusetzen – vom Dorfladen über Repair-Cafés bis zu Bürgerbussen.
Seit 2015 wurden so mehr als 1500 Projekte gefördert, allein 2024 waren es über 200. Damit trägt die Allianz entscheidend dazu bei, Beteiligung vor Ort lebendig zu machen und Engagement langfristig zu stärken.
Anknüpfungspunkte für alle?
Obwohl das Recht auf Teilhabe für alle gilt, sind manche Gruppen in Beteiligungsprozessen nach wie vor unterrepräsentiert – etwa Jugendliche, junge Familien, Menschen mit Behinderungen, Menschen mit Migrationsgeschichte oder Menschen in prekären Lebenslagen. Eine wachsende Herausforderung stellt das „unsichtbare Drittel“ dar: Menschen, die sich abgehängt fühlen und ihr Vertrauen in „die Politik“ verloren haben.
Warum Teilhabe essenziell ist
Die Ursachen der Unterrepräsentation sind vielfältig: ungünstige Orte und Zeiten von Veranstaltungen, komplizierte Formate und Methoden, unklare Ziele, eine unzureichende oder exklusive Ansprache. Aber auch fehlende oder negative Vorerfahrungen im Umgang mit Politik und Verwaltung wirken sich hemmend aus.
Diese Hürden gilt es zu adressieren, denn politische und soziale Teilhabe ist kein Nice-to-have. Im Gegenteil: Ein Mangel an gleichberechtigter Teilhabe mindert die Qualität politischer Entscheidungsprozesse, da Argumente und Perspektiven mancher Gruppen nicht einfließen. Gleichzeitig fehlt das Erleben von Selbstwirksamkeit. Zudem schwächt das Gefühl, nicht gehört zu werden, das Vertrauen in die Politik und erhöht das Risiko, dass sich Menschen von demokratischen Strukturen abwenden.
Wie sich Hürden überwinden lassen
Werden mit Beteiligungsprozessen „eh immer nur die Gleichen“ erreicht? Nein! Fakt ist: Die Qualität von Beteiligungsprozessen hat sich in den letzten Jahren deutlich erhöht. Gleichzeitig ist das Bewusstsein für die Notwendigkeit gleichberechtigter Teilhabe spürbar gewachsen, aber auch das Erfahrungswissen, wie das gelingen kann.
Viele Kommunen haben sich mit dem Thema „Breite Beteiligung“ intensiv auseinandergesetzt und neue, erfolgreiche Herangehensweisen entwickelt. Folgende Ansätze haben sich bewährt:
- Beteiligung im Vorfeld der Beteiligung: Bereits bei der Planung werden wichtige Stakeholder und Multiplikatoren einbezogen, sodass Hürden frühzeitig erkannt und abgebaut werden können.
- Zielgruppenfokussierung: Statt die Gesamtbevölkerung anzusprechen, werden explizit jene Gruppen adressiert, die für den Prozess besonders wichtig sind (zum Beispiel Jugendliche, Bewohner eines Quartiers, Frauen mit Migrationsgeschichte).
- Niederschwellige, kombinierte Formate: zum Beispiel Postkartenaktionen, Sofagespräche im Park, digitale Plattformen, gemeinsames Kochen, Ortsspaziergänge, Angebote in einfacher Sprache. Als Orte eignen sich Spielplätze, Jugendhäuser, Quartiersplätze, Wohnheime oder auch Straßenbahnen.
- Zufallsauswahl: Losverfahren – auch in Kombination mit persönlicher Ansprache – bringen neue Stimmen in Prozesse und erhöhen die Vielfalt der Beteiligten.
Mehr Vertrauen in die Politik
Bürgerbeteiligungsprozesse sind in Baden-Württemberg fester Bestandteil politischer Kultur und des sozialen Miteinanders. Gleichberechtigte Teilhabe wird vielerorts nicht als Pflichtübung verstanden, sondern als Chance, die Qualität von Entscheidungen zu erhöhen, Bedarfe und Potenziale frühzeitig zu erkennen, Vertrauen in die Politik zu stärken sowie den sozialen Zusammenhalt zu fördern.
Investition in die Demokratie
Die Ansprache auch jener, die sich bisher wenig beteiligen (können), bleibt eine Herausforderung – doch es gibt mittlerweile vielfältige kreative Ideen und erprobte Ansätze, wie bestehende Hürden gesenkt werden können. Wichtig wird sein, Bürgerbeteiligung auch in Zeiten knapper Kassen nicht als Luxus abzuwerten, sondern als Investition in die Zukunft der Demokratie zu begreifen.
Anni Schlumberger



