Prof. Tim Engartner: „Tafelsilber liegt unnütz herum“

„Privat kann es besser als der Staat“ lautet das Mantra von Lobbyverbänden und vielen Politikern. Der Frankfurter Sozialwissenschaftler Tim Engartner aber warnt davor, die Privatisierung von Infrastrukturaufgaben als Allheilmittel zu sehen. Der Staat sei nicht grundsätzlich der schlechtere Unternehmer.

Herr Prof. Engartner, staatliche Wirtschaftstätigkeit hat angesichts von Pleiten, Pech und Pannen, siehe zum Beispiel die Bayern LB oder den Flughafen BER, ein schlechtes Image. Versagt der Staat als Unternehmer?

Engartner: Der Staat ist ein schlechter Unternehmer, so hört man es immer wieder. Und schenkt man den Jahresberichten des Bundes der Deutschen Steuerzahler, den Botschaften der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft sowie der häufig verkürzten Medienberichterstattung Glauben, könnte man in der Tat den Eindruck gewinnen, dass der Staat sich besser nicht unternehmerisch betätigen sollte. Aber sowohl die Verzehnfachung der Kosten beim Bau der Hamburger Elbphilharmonie wie auch der Konkurs des für den Autobahnbau zwischen Bremen und Hamburg verantwortlichen Konsortiums sind auf das Versagen der Privatunternehmen zurückzuführen. Und die in der Öffentlichkeit breit diskutierten Verfehlungen der Landesbanken nehmen sich im Vergleich zu denen der privaten Geschäftsbanken, die während der Bankenkrise mit Milliarden Euro Steuergeldern gestützt werden mussten, regelrecht bescheiden aus.

Tatsache ist, dass Verkehrswege und Gebäude im öffentlichen Eigentum in den vergangenen Jahrzehnten heruntergewirtschaftet wurden. Was läuft schief beim Umgang von Bund, Ländern und Kommunen mit wichtigen Infrastrukturgütern?

Engartner: Kern des Problems ist die chronische Unterfinanzierung der öffentlichen Haushalte. Gerade den Kommunen fehlt das Geld. Sie mussten allein für die Unterkünfte von Hartz-IV-Empfängern im vergangenen Jahr 225 Millionen Euro aufbringen. Ähnlich verhält es sich auf Bundesebene. Um trotz zu niedriger Steuereinnahmen in die Straßeninfrastruktur investieren zu können, setzt auch die amtierende Bundesregierung auf das vermeintliche Allheilmittel Privatisierung, weshalb unter anderem immer mehr Autobahnen nach Public-Private-Partnership-Prinzipien privatisiert werden.

Wo liegen hier die Risiken?

Engartner: Die negativen Folgen dieses in Großbritannien entwickelten Konzessionsmodells spiegeln sich ja nicht nur in höheren Gebühren für die WC-Benutzung an privatisierten Raststätten wider. Das Desaster des vor der Insolvenz stehenden privaten Autobahnbetreibers A1 mobil, der nun millionenschwere Forderungen an die Bundesregierung richten wird, spricht Bände. Bis zu 30 Hedgefonds sollen laut Zeitungsberichten interessiert sein, die Kredite der Gläubigerbanken zu übernehmen, um die Forderungen an die Bundesregierung einzutreiben.

Warum gelingt es zum Beispiel den Schweizer Bundesbahnen, den SBB, trotz milliardenschwerer Investitionen Überschüsse zu verbuchen, während die Politik in Deutschland an Privatisierung denkt, wenn es um eine zukunftsfähige Verkehrsinfrastruktur geht?

Engartner: Die SBB sind ein hervorragendes Beispiel für erfolgreiche staatliche Wirtschaftstätigkeit, konnten sie doch in den vergangenen Jahren trotz kostspieliger Investitionen wie etwa in die Neue Eisenbahn-Alpentransversale nahezu durchweg hohe Überschüsse verbuchen. Dies liegt zum einen an dem extrem guten Management durch ausgewiesene Bahnexperten. Hierzulande dominierten zuletzt leider ehemalige Luftverkehrsmanager wie Hartmut Mehdorn und Rüdiger Grube die Geschicke der Bahn, obwohl die DB innerhalb einer Woche so viele Gäste befördert wie die Deutsche Lufthansa innerhalb eines Jahres, die Verkehrsträger also überhaupt nicht vergleichbar ist.

Worauf baut der Erfolg der SBB noch auf?

Engartner: Obschon nicht die Gewinn-, sondern die Gemeinwohlorientierung im Mittelpunkt steht, sind die SBB auch betriebswirtschaftlich erfolgreich, weil sie mit attraktiven Angeboten wie dem Gleis-7-Abo um Kunden buhlen. Nachtschwärmer können damit zwischen 19 Uhr und 5 Uhr auf dem gesamten SBB-Streckennetz gratis reisen. Hinzu kommt, dass die Investitionen trotz der topografischen und klimatischen Besonderheiten sehr viel niedriger sind als in Deutschland. Das heißt, das Unternehmen wirtschaftet sehr viel effizienter. Zugleich lassen die Pünktlichkeitswerte in der Alpenrepublik deutsche Bahnfahrer ins Träumen geraten.

Der wirtschaftliche Erfolg der Bundesrepublik beruht auf dem Leistungsvermögen privater Unternehmen. Könnte die Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur am Ende nicht doch die Probleme lösen, die der Staat selbst nicht in den Griff bekommt?

Engartner: Lassen Sie mich so antworten: Die im Kontext von Privatisierungen beliebte Metapher vom Verkauf des Tafelsilbers hinkt, denn Tafelsilber liegt unnütz im Schrank herum. Staatliche Unternehmen können durchaus profitabel arbeiten und verschaffen der Allgemeinheit laufende Einnahmen, wenn sie denn richtig geführt werden.

Können Sie Beispiele nennen?

Engartner: Die Bundespost ließ dem Staatshaushalt noch Ende der 1980er-Jahre einen Jahresüberschuss von mehr als fünf Milliarden D-Mark zufließen. Mindestens ebenso beeindruckt die Tatsache, dass der preußische Staat vor dem Ersten Weltkrieg nahezu ein Drittel seines Haushaltes durch die Einnahmen aus dem Bahnbetrieb decken konnte. In den 1920er-Jahren leistete die Reichsbahn aus ihren Erträgen nahezu sämtliche Reparationsleistungen an die Siegermächte des Ersten Weltkrieges. Warum nur gerät immer wieder in Vergessenheit, dass Staatsunternehmen in der Regel verlässliche Einnahmen erwirtschaften und private Unternehmen im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge meist nur betriebswirtschaftlich und nicht volkswirtschaftlich erfolgreich sind?

In den vergangenen Jahrzehnten haben die jeweiligen Bundesregierungen viele Privatisierungen durchgesetzt und es veräußerten auch Kommunen bedeutende Aufgaben der Daseinsfürsorge an Private. Und dies, wie Sie sagen, trotz der an konkreten Beispielen abzulesenden negativen Folgen. Ignoriert die Politik die Risiken?

Engartner: Politiker gleich welcher Couleur sind meist kurzfristorientiert, sie schauen auf die Ergebnisse, die sie innerhalb einer Legislaturperiode erreichen können. Hohe Einmalinvestitionen scheuen sie und setzen stattdessen lieber auf langjährige Mietzahlungen. Dies tun sie, obwohl die Gesamtkosten in der Regel deutlich höher ausfallen, da die Staatsschuld zunächst geringer ist. Den mit Privatisierungen verbundenen Schaden erkennen viele nicht.

Wo zeigt sich dieser?

Engartner: Wenn es an preiswertem Wohnraum fehlt, ist dies das Ergebnis der Privatisierung kommunalen Wohneigentums. Und wenn das Briefporto erhöht, der Zustellungsrhythmus ausgedünnt und der Briefkasten um die Ecke demontiert wird, ist dies das Ergebnis der Postprivatisierung. Und auch die Fahrpreiserhöhungen sowie die Zugverspätungen der Deutschen Bahn sind das Ergebnis der von Kurzfristig- und Kurzsichtigkeit geprägten Privatisierungslogik.

Sie führen teils drastische Preiserhöhungen etwa bei der privat erledigten kommunalen Hausmüllentsorgung als Beleg dafür an, dass die „Vermarktlichung“ öffentlicher Leistungen die Volkswirtschaft unter dem Strich zu teuer kommt. Bildet ein höherer Preis nicht einfach nur höhere Kosten für die Produktion einer Dienstleistung ab?

Engartner: Grundsätzlich muss man sich vor Augen führen, dass private Unternehmen einer anderen Logik verpflichtet sind als ,Vater Staat‘. Ihnen geht es um Gewinn- und nicht um Gemeinwohlorientierung. Dies muss notwendigerweise so sein, damit sie auf dem Markt, das heißt im Wettbewerb um Investitionen, bestehen können. Insofern kann man die höheren Preise erklären, muss sie aber nicht unbedingt akzeptieren. Allerdings lässt sich die höhere Effizienz privater Unternehmen im Vergleich zu öffentlichen Unternehmen nicht eindeutig nachweisen. So geht es meist um betriebswirtschaftliche und nicht um volkswirtschaftliche Effizienz. Das heißt, immer dann, wenn der Staat die Entscheidungs- und Handlungshoheit auf Privatunternehmen überträgt, werden rein betriebswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Rechnungen über volkswirtschaftliche oder langfristige politische Ziele gestellt.

Können Sie das bitte an einem Beispiel verdeutlichen?

Engartner: Schauen Sie sich die Privatisierung der Bundespost an. Hier werden die Negativfolgen politisch und medial tabuisiert. Zwar steht die Deutsche Telekom AG nach ihrer Kapitalprivatisierung gemessen an den in der Konzernbilanz ausgewiesenen Größen nicht schlechter da als zuvor. Aber während wir als Kunden der Telekom und konkurrierender Anbieter wie Base, O2 und Vodafone infolge der Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes von insgesamt gesunkenen Tarifen profitieren, zahlen wir über Steuern und Sozialversicherungsabgaben für den Stellenabbau, die Pensionslasten und die Ausgründung der Beschäftigten in Personalserviceagenturen wie Vivento. Die auch in vielen Tages- und Wochenzeitungen wiederholte Formel ,Telefonieren ist billiger geworden‘ ist somit schlicht falsch. In der Gesamtschau stehen Telefonkunden, die als sozialversicherungspflichtig Beschäftigte Steuern zahlen, schlechter dar.

Was sind aus Ihrer Sicht die Folgen einer „ÖPP-Arithmetik“, wie Sie es nennen, für den Staat und seine Bürger?

Engartner: Bei einer Finanzierung durch die öffentliche Hand muss der Staat die Kredite unmittelbar als Schulden verbuchen, bei einer ÖPP-Konstruktion hingegen fallen die Zahlungen über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten – meist über einen Zeitraum von 30 Jahren – an. Man muss ÖPP-Projekte insofern als eine versteckte staatliche Kreditaufnahme ansehen, mit der die seit 2016 auf Bundesebene und ab 2020 auch auf Länderebene geltende Schuldenbremse zwar umgangen, der Schuldenberg aber nicht abgetragen wird. Es steht dennoch zu befürchten, dass die ÖPP-Arithmetik weiterhin Schule macht.

Woran lesen Sie das ab?

Engartner: Die Fratzscher-Kommission etwa hat ÖPPs als eine Möglichkeit entdeckt, die Kosten der Finanz- und Eurokrise in Zeiten historisch niedriger Zinsen von den Kapitalanlegern auf die Verbraucher und Steuerzahler zu verlagern. Während die Aufträge für Anwaltskanzleien, Baufirmen und Consulting-Unternehmen ausgesprochen profitabel sind, verliert die öffentliche Hand bei nahezu allen ÖPP-Projekten. Kurzum: Bei ÖPPs handelt es sich nicht um Partnerschaften zu Gunsten der Allgemeinheit – wie der Begriff suggeriert –, sondern um Komplizenschaften zu ihren Lasten.

Trotz der Risiken von Privatisierungen im Bereich der Infrastruktur und der Daseinsfürsorge regt sich allgemein bei Politikern und Bürgern nur wenig Widerstand. Fehlen womöglich die Alternativen?

Engartner: Nein, natürlich nicht, denn nichts im Leben mit Ausnahme des Tods ist alternativlos. Die Frage, welchen Staat und wie viel Staat wir brauchen, wird auf absehbare Zeit eine bedeutende, wenn nicht gar die zentrale Bruchlinie durch unsere Gesellschaft markieren. Deshalb müssen wir noch mehr Antworten auf die Frage liefern, welche Risiken mit Privatisierungen einhergehen.

Diese Betrachtung sollte, so sagen Sie, gerade auch auf kommunaler Ebene stärker erfolgen…

Engartner: Ja. Immer mehr Städte und Gemeinden belegen, dass kommunale Wirtschaftstätigkeit sehr erfolgreich sein kann. So zweifeln seit geraumer Zeit immer mehr Bürgermeister am allseits proklamierten Verkauf des Tafelsilbers. Zunehmend werden sie mit der Frage konfrontiert, warum der Hausmüll von den privaten Branchenriesen Remondis, Sulo oder Veolia entsorgt wird, obwohl die Preise doch in fast allen Kommunen, in denen die Abfallentsorgung privatisiert wurde, in die Höhe schnellten – mitunter um das Dreifache. Die Kritik von Bürgerinnen und Bürgern veranlasst immer mehr Politiker, nach Alternativen zur Privatisierung Ausschau zu halten. Das wachsame Auge der Öffentlichkeit ist die wirksamste Waffe im Kampf gegen Privatisierungen.

Was empfehlen Sie Politikern, wenn sich die Diskussion wieder einmal um die Frage der Privatisierung einer öffentlichen Leistung dreht?

Engartner: Für Politiker, die mit Blick auf ihre Wiederwahl auf einen tendenziell ausgeglichenen Haushalt in der laufenden Legislaturperiode verweisen wollen, dürfen Privatisierungen auch nach der ÖPP-Arithmetik nicht länger attraktiv sein. Dazu braucht es informierte Bürger, die sich auflehnen, und politische Entscheidungsträger, die dem Lobbyismus von Baukonzernen wie Bilfinger und Hochtief sowie dem Geschäftsgebaren von Banken und Versicherungen trotz klammer Kassen widerstehen. Andernfalls werden wir die langen Schatten der Privatisierung nicht nur spüren, wenn wir über die privatisierten Autobahnen rollen und an den Raststätten 70 Cent für unseren Toilettengang entrichten. Werden ÖPPs endgültig salonfähig, wird uns der „schlanke“ Staat auch bei jeder Bahn- und Busfahrt sowie bei jedem Schwimmbad- und Theaterbesuch auf die Füße fallen. Einen schlanken Staat können sich nur Reiche leisten. Da sich die Stärke einer Gesellschaft aber am Wohl der Schwachen misst, brauchen wir eine öffentliche Daseinsvorsorge, die verlässlich staatlich finanziert ist.

Interview: Wolfram Markus

Zur Person: Der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler Dr. Tim Engartner (Jg. 1976) ist Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Der 2016 gegründeten Gesellschaft für Sozioökonomische Bildung und Wissenschaft (GSÖBW) gehört er als deren Sprecher an. Engartner ist zudem Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin, des Zentrums für Ökonomische und Soziologische Studien (ZÖSS) sowie Senior Fellow der Stiftung Neue Verantwortung. Schon seit seiner Promotion im Jahr 2008 beschäftigt ihn die Frage, warum und mit welchen Folgen für das Gemeinwohl in Deutschland Privatisierungspolitik betrieben wird.

Buchtipp: Staat im Ausverkauf, Tim Engartner, Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2016, 268 S., 22,95 Euro (ISBN 978-3-593-50612-8)

In der Überzeugung, dass Privatisierungen Dienstleistungen besser, billiger und bürgernäher machen, schüttelt „Vater Staat“ immer mehr Aufgaben ab – wie ein Baum seine Blätter im Herbst. Anhand besonders eindrücklicher Beispiele analysiert Tim Engartner in sieben Kapiteln – Bildung, Verkehr, Militär, Post und Telekommunikation, soziale Sicherung, Gesundheit und kommunale Versorgung – die Privatisierungen in Deutschland und ordnet sie in internationale Zusammenhänge ein. Er legt dar, dass marode Schulen und Krankenhäuser, explodierende Mieten in städtischen Zentren, steigende Preise für Wasser, Gas und Strom, geschlossene Filialen der Deutschen Post, Verspätungen bei der Deutschen Bahn auch auf den Ausverkauf der öffentlichen Hand zurückgeht. Er zeigt auch auf, dass Privatisierungspolitik nicht alternativlos ist.