Rekommunalisierung: Rückbesinnung auf das Bürgerwohl

Durch die Privatisierung öffentlicher Leistungen in Bereichen wie Bildung, Verkehr und Gesundheit setzt der Staat die Gemeinwohlorientierung der Daseinsvorsorge aufs Spiel. Der Sozialwissenschaftler Tim Engartner kritisiert in seinem Beitrag solche Projekte und plädiert für mehr Rekommunalisierungen.

Die Privatisierung schreitet im Schulwesen unaufhörlich voran. So erhält zum Beispiel jeder vierte Schüler mittlerweile Nachhilfe. Es gibt eine Vielzahl privater Nachhilfe-Einrichtungen. Die Schulbildung nach Schulschluss wird immer bedeutsamer. Auch die Zahl von privaten Kitas, Krippen, Schulen und Hochschulen wächst. In Deutschland eröffnet zeitweilig jede zweite Woche eine neue Privatschule ihre Pforten. Kritisch gewendet muss man sagen, dass damit Bildung zur Ware zu werden droht.

Ein zentraler Grund für diese Privatisierung von Bildung ist die chronische Unterfinanzierung des Bildungssystems. Nach wie vor gibt die Bundesrepublik Deutschland im internationalen Bereich sowohl im primären wie auch im sekundären und tertiären Sektor zu wenig Geld für Bildung aus. Schulen sehen sich mit dem Problem konfrontiert, dass die Sachausstattung nicht sachgerecht ist, weil die Schulbuchetats sinken, die Kopierkontingente gedeckelt sind und die Kosten für digitale Infrastruktur stetig steigen.

Die chronische Unterfinanzierung des Bildungssektors hat zur Folge, dass immer mehr private Akteure auf den Markt treten. Im Rahmen der Pisa-Studie 2006 wurde bei einer Befragung der Schulleiter offenkundig, dass knapp 87 Prozent der 15-jährigen Schüler hierzulande eine Schule besuchen, an der Wirtschaft und Industrie Einfluss auf die Lehre ausüben, was im OECD-Vergleich einen Negativ-Rekord darstellt.

Diese Öffnung von Schule gegenüber unternehmerischen Einflüssen hat zu einer tektonischen Verschiebung der Akteurskonstellationen im Bildungssektor geführt. Nicht nur, dass Gewinn- und Gemeinwohlorientierung aufeinanderprallen. Durch das Einspeisen von selektiven, tendenziösen und manipulativen Unterrichtsmaterialien gelingt es Unternehmen zudem auch, die Vor- und Einstellungen junger Menschen zu prägen.

Bahnreform löst Versprechen nicht ein

Nicht nur auf dem Bildungs-, sondern auch auf dem Verkehrsmarkt greifen die Kräfte des freien Marktes. Die Privatisierung der Deutschen Bahn (DB) beispielsweise treibt nicht nur die Bahnpendler um, sondern auch solche, die es einmal werden wollen. Fast täglich hören wir von Oberleitungsschäden, Lokschäden und Triebwerksschäden. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass der DB-Vorstand das vormals personalintensive Staatsunternehmen nach der Privatisierung im Jahre 1994 systematisch für den Börsengang aufgehübscht hat, indem er eine rigide Sparpolitik betrieben hat.

Die Deutsche Bahn AG, die innerhalb von acht Tagen so viele Kunden befördert wie die Deutsche Lufthansa innerhalb eines Jahres, konzentriert sich fast ausschließlich auf den Hochgeschwindigkeitsverkehr. Obwohl 90 Prozent des Schienenverkehrs auf Bahnfahrten von unter 50 Kilometer Reichweite entfallen, fließen dort nur zehn Prozent der Investitionen hin. Im Ergebnis bedeutet dies eine Konzentration auf den Hochgeschwindigkeitsverkehr, das heißt auf die Magistralen, statt einer systematischen Förderung des Verkehrs in der Fläche. Dabei wäre die polyzentrische Raumstruktur in Deutschland mit seinen vielen Mittel- und Oberzentren eigentlich dazu angetan, ein besonders engmaschiges Netz von Schienenverkehrsleistungen vorzuhalten.

Deutsche Bahn verändert ihr Profil

Die Abkehr von der Flächenbahn, die das schnelle Reisen für alle demokratisiert statt es für eine kleine Minderheit zu monopolisieren, lässt sich auch daran ablesen, dass die Bahncard 50 für kinderreiche Familien, der sogenannte „Wuermeling-Pass“, ein Relikt der Vergangenheit ist und die Sozialpflichtigkeit der Bahn nicht mehr erkannt wird. Die einem Glaubensbekenntnis gleichkommende Behauptung, konkurrierende Betreibergesellschaften der Deutschen Bahn AG übernähmen defizitäre Streckenabschnitte, ist eine Mär. Denn unter kaufmännischen Gesichtspunkten müssen alle Betreibergesellschaften die Streckenabschnitte einstellen, deren Ertragswerte negativ sind oder jedenfalls unterhalb der durchschnittlichen Rendite im Bahnsektor liegen.

Zudem ist zu beobachten, dass sich die Bahn mit Blick auf ihr Unternehmensprofil wandelt. Sie trägt nun den Zusatz DB Mobility Networks Logistics AG, um sich als international agierender Mobilitäts- und Logistikkonzern zu profilieren. So erwirtschaftet die Bahn mittlerweile zwei Drittel ihres Gewinns nicht mehr mit schienengebundenem Verkehr, sondern mit Logistikdienstleistungen im In- und Ausland. Die Deutsche Bahn ist folglich nicht mehr an einer Steigerung des Schienenverkehrsaufkommens interessiert, sondern lediglich an einer verkehrsträgerneutralen Steigerung ihrer Marktanteile.

Kritisch daran ist, dass die Deutsche Bahn AG, die sich nach wie vor zu 100 Prozent in Bundesbesitz befindet, mit der Bonität der Bundesrepublik Deutschland im Rücken auf Einkaufstour geht. So betreibt sie u. a. Wassertaxen in Kopenhagen und Amsterdam. Das ist auch deswegen zu kritisieren, weil die Sanierung der Deutschen Bahn AG, die seinerzeit bei der Bahnreform in Aussicht gestellt worden war, immer noch nicht in dem Umfang Platz gegriffen hat, wie dies versprochen worden war. Trotz des AG-Effekts, das heißt der größeren Flexibilität im Personal-, Angebots- und Vermarktungsbereich, hat sich keine substanzielle Entlastung der Steuerzahler ergeben.

Das liegt daran, dass der Bahnsektor durch hohe Fixkosten und einen immensen Bedarf an sehr langfristigen Investitionen gekennzeichnet ist. Dieser generationenübergreifende Zeithorizont steht im diametralen Gegensatz zum kurzfristigen Rentabilitätsinteresse börsennotierter Unternehmen, deren Erfolg sich nach dem Willen der Anteilseigner bestenfalls bereits in den nächsten Quartalszahlen niederschlagen soll. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Kurz- und Langfristorientierung wird bei der Deutschen Bahn besonders offensichtlich und ist schlicht nicht aufzulösen.

Kampagne propagiert Niedergang der staatlichen Rente

Ein weiterer Bereich, der seit den 2000er-Jahren maßgeblicher Gegenstand der Privatisierungspolitik ist, sind die sozialen Sicherungssysteme und dabei zuvorderst die Rente. Im Glauben daran, dass nur ein schlanker Staat ein guter Staat sei, baute die von Gerhard Schröder geführte rot-grüne Bundesregierung den Bismarckschen Sozialstaat systematisch um und ab.

Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung galten bald nicht mehr nur in liberal-konservativen Kreisen, sondern auch darüber hinaus als ein gesetzliches Zwangssystem, das es zu privatisieren galt. Die Abkehr vom Umlageverfahren hin zum Kapitaldeckungsprinzip ist ohne eine Würdigung lobbyistisch motivierter Tätigkeiten von Abgeordneten nicht zu erklären. Die Privatisierung der Altersvorsorge war das Ergebnis einer langjährigen politischen Kampagne des Deutschen Instituts für Altersvorsorge, die private Rente zu popularisieren und den Niedergang der staatlichen Rente zu propagieren.

Die Privatisierung der Bundespost ist ein weiteres mustergültiges Beispiel dafür, wie man ein bis in die 1980er-Jahre hinein profitables Unternehmen filetiert – und systematisch kapitalisiert. Wir klagen vielfach über das steigende Briefporto, die Demontage von Briefkästen und die ausbleibende tägliche Postzustellung. Viele Postämter sind zu Postagenturen in Supermärkten und Lottoannahmestellen geworden. Der Erfolg der ,Aktie Gelb“ oder auch des ,Gelben Riesen‘ in Gestalt milliardenschwerer Gewinne ist nur deshalb erzielt worden, weil der Bund bei der Privatisierung zu Beginn der 90er-Jahre zugesagt hatte, sämtliche Pensionslasten zu übernehmen.

Im Gesundheitsmarkt versagt das Marktprinzip

Schließlich ist auch das Gesundheitswesen privatisiert. Besonders interessant ist dabei, dass im Markt für Gesundheitsdienstleistungen das Marktprinzip versagt. Die meisten Güter und Dienstleistungen werden bekanntlich freiwillig in Anspruch genommen. Gesundheitsleistungen werden aber unabhängig davon, wie preiswert sie sind, von niemandem ernstlich freiwillig in Anspruch genommen.

Insofern ist der Gesundheitsmarkt ein Markt, auf dem sich Abhängige bewegen. Gesundheitsdienstleistungen dürfen aber nicht nur dem Marktprinzip gehorchen. Dies gilt auch für Krankenhäuser, die mehr und mehr nach ökonomischen Richtwerten ausgerichtet werden.

Neben der Zementierung der Zweiklassenmedizin haben wir ein System, das mit Fallpauschalen arbeitet. Das hat zur Folge, dass wir mitunter „englische Entlassungen“ vorfinden, sprich Patienten, die noch nicht vollständig geheilt sind, aber für die die Krankenhäuser kein Geld mehr von den Versicherungen erhalten, weil die Fallpauschale eine längere Verweildauer im Krankenbett nicht vorsieht.

Vater Staat erlebt eine Renaissance

Doch die Hoffnung stirbt zuletzt – auch die auf eine Renaissance von „Vater Staat“. Denn einige Städte und Gemeinden haben ihre an Private veräußerten Dienstleistungen rekommunalisiert – und zwar vielfach unabhängig von der parteipolitischen Zusammensetzung der Kommunalverwaltung. Die erste nennenswerte Stadt war Potsdam im Jahr 2000 mit dem damaligen Oberbürgermeister Matthias Platzeck. Die Stadt hat, drei Jahre nachdem sie 49,9 Prozent der Anteile ihrer Wasserbetriebe an den deutsch-französischen Konzern Eurawasser verkauft hatte, den Kooperationsvertrag aufgekündigt, weil eine Verdoppelung der Wasserpreise angestanden hätte.

Da ist der lokale Mittelstand auf die Barrikaden gegangen und hat gesagt, wir wollen uns verabschieden von einer Privatisierung der Wasserbetriebe, lasst uns die Wasserbetriebe wieder unter das kommunale Dach, das heißt unter das Dach der Stadt Potsdam zurückholen. Das war eine Entscheidung mit bundesweiter Signalwirkung. Ein weiteres Feld für Rekommunalisierungen ist die Abfallwirtschaft. So hat man in Bergkamen, Leichlingen, Aachen, Hannover und vielen anderen Städten und Gemeinden die Müllentsorgung wieder unter das kommunale Dach zurückgeführt. Teilweise konnten die Beschäftigtenzahlen aufgestockt, die Müllgebühren gesenkt und die Arbeitsbedingungen verbessert werden.

Ein weiteres Beispiel, das Anlass zur Hoffnung gibt, ist die „Katharsis“ in Freiburg und Dortmund. Beide Städte haben die Reinigung der öffentlichen Hochschulen, Schulen, Kindergärten und Sportstätten unter das kommunale Dach zurückgeführt und dabei eine simple Lösung angewandt: So haben sie zum Beispiel die Beschäftigten in die Beschaffungsentscheidungen eingebunden.

Wenn die Reinigungskräfte mehrere 100 Toiletten am Tag zu reinigen haben, macht es einen zeitsensiblen Unterschied, ob die Klobürste auf dem Boden in einer Toilette steht oder ob sie an der Wand angebracht ist. Diese Beschaffungsentscheidung „pro Wand“ kam von Reinigungskräften. Zudem konnten Zeitverträge in unbefristete Verträge umgewandelt werden.

Fünf Argumente

Die Beispiele zeigen, dass die unheilvolle Entwicklung in Richtung betriebswirtschaftlich motivierter Vermarktlichung ein Stück weit gebrochen ist. Viele Bürger realisieren, was das lateinische Wort „privare“ bedeutet, nämlich „rauben“. Knapp Dreiviertel der Unions- und der SPD-Wähler sind der Meinung, dass Bahn, Post und Gaswerk beim Staat besser aufgehoben sind als in privaten Händen. Das sollte uns eine Lehre sein.

Denn gerade im Schatten der Wirtschafts- und Finanzkrise ist der Staat wieder zum Adressaten für Schutzwünsche und Sicherheitserwartungen geworden. So gibt es viele Bürgerentscheide gegen Privatisierungsvorhaben, darunter in Berlin, Freiburg, Hamburg und Mülheim an der Ruhr. Aber auch in Lille, Jakarta und Barcelona hat man Referenden über den Rückkauf privatisierten städtischen Eigentums durchgeführt – mit meist positivem Ausgang.

Es gilt in Erinnerung zu rufen, dass mit jeder Privatisierung Einflussmöglichkeiten von demokratisch legitimierten Akteuren zu privaten verschoben werden, sodass die Entscheidungen – jedenfalls prinzipiell – nicht mehr von Personen und Gremien getroffen werden, die sich öffentlich verantworten müssen. Vor diesem Hintergrund lassen sich Argumente für die Renaissance des Staates anführen:

  • Statt die öffentliche Daseinsvorsorge auf dem Altar des Marktes zu opfern, sollten wir uns vergegenwärtigen, dass sich die Stärke einer Gesellschaft am Wohl der Schwachen misst.

  • Das Wohl des Schwachen kann nur dann gewährleistet werden, wenn überlebenswichtige Güter und Dienstleistungen allen Menschen, unabhängig von ihrer Kaufkraft, zur Verfügung stehen. Dafür braucht es zwingend eine Neujustierung der Steuern- und Abgabenarchitektur.

  • Wir müssen mehr enttarnen, dass es einer Volkswirtschaft nur dann gut gehen kann, wenn es dem Volk schlecht geht. Prosperierende Volkswirtschaften sollten unbedingt einen Mehrwert für die Bevölkerung haben und umgekehrt.

  • Ohne die vielbeschworene Renaissance des Staates schafft Vater Staat sich über kurz oder lang selbst ab.

  • Eine Gesellschaft, die von allem den Preis, aber von nichts mehr den Wert kennt, hat aufgehört zu existieren.

  • Tim Engartner

Dr. Tim Engartner ist Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Autor des Buchs „Staat im Ausverkauf. Privatisierung in Deutschland“ (Campus Verlag)

Info: Der Beitrag basiert auf dem Vortrag „Staat im Ausverkauf“, der am 27. November 2018 in der SWR-Tele-Akademie ausgestrahlt wurde.