Reiner Nagel im Interview: Ein Plädoyer für die Baukultur

Man kann klein anfangen, sollte aber groß denken – so lautet der Appell von Reiner Nagel an die Akteure in den Kommunen. Der Architekt und Stadtplaner hat sich der Baukultur verschrieben: Raum- und Gebäudekontexte sowie Infrastrukturen mitdenken und das Vorhandene zum Besseren weiterentwickeln.

Nicht „einfach“ etwas hochziehen, sondern ein komplexes Bild mit vielfältigen Aspekten bedenken: Darum geht es der Bundesstiftung Baukultur. Foto: Adobe Stock/sculpies

Ein grundlegendes Anliegen der Bundesstiftung Baukultur ist es, für ihr Thema zu sensibilisieren. Was aber ist mit dem Begriff „Baukultur“ gemeint?

Reiner Nagel: Die meisten denken bei diesem Begriff erst einmal an Denkmäler und an Ästhetik. Darum geht es auch, aber längst nicht nur. Es geht um alle Aktivitäten, mit denen umgebende Räume gestaltet werden: Es geht um Gebäude, Wohn- ebenso wie Feuerwehr- und Rathäuser, um Straßen, Schienen und Brücken Ebenso technische Infrastrukturen, auch soziale Infrastrukturen, Parks und Innenstadtareale. Bei der Baukultur geht es darum, die Räume, in denen wir uns aufhalten, in denen wir arbeiten und leben, nicht irgendwie zusammenzuschustern, sondern möglichst hochwertig zu gestalten. Es geht darum, das Vorhandene zum Besseren zu transformieren. Es geht um die Lebensräume der Zukunft, und für die sollte man sich viel Mühe geben. Die Frage ist: Ist das noch Bauerei oder schon Baukultur?

Allein bei dem Wort „hochwertig“ werden Kämmerer und Kämmerinnen sicherlich nervös: Hochwertig klingt teuer.

Nagel: Das stimmt — und stimmt doch nicht. Kurzfristig gibt man weniger Geld aus, wenn man billig plant. Langfristig wird es wesentlich teurer, wenn man Materialien verbaut, die nicht lange halten, weil man bald schon Geld für Reparaturen oder sogar für Ersatzneubauten ausgeben muss. Dazu kommt die CO2-Bilanz, die man aktuell noch nicht kalkulieren muss, die tatsächlich aber eine wesentliche Rolle spielt. Und noch etwas: Eine Gemeinde, die sich der Baukultur und damit der Lebensqualität verschreibt, ist attraktiv, zieht Menschen und Unternehmen an, und das rechnet sich. Sicherlich nicht sofort, mittelfristig aber auf jeden Fall.

Keine Gemeinde fängt bei Null an, es gibt jede Menge Bestandsbauten, der Boden ist versiegelt. Zum Beispiel meine Heimatstadt Düsseldorf: Jeder verbindet sie mit dem Rhein — die namensgebende Düssel kennt kaum noch jemand, sie ist zugebaut und so gut wie nicht vorhanden. Sie wiederzubeleben, wäre vermutlich eine gute Maßnahme im Sinne von hochwertiger Baukultur. Man kann eine Stadt aber nicht über Nacht umgestalten — wie kann man vorgehen?

Nagel: Düsseldorf ist ein gutes Beispiel für Veränderung. Zum einen die Idee, die Stadt wieder an den Rhein, aber eben auch an die Düssel zu bringen und ihr etwas von verlorener Identität zurückzugeben. Das ist ein wichtiger Aspekt für ganzheitliche Entwicklungen — man sollte neben der sogenannten grauen Energie, also den in Bauwerken gebundenen Emissionen, auch die goldene Energie mitdenken: Es geht nicht nur um Baustoffe, Herstellungsenergie und Transportwege, sondern auch um Integration ins Umfeld und Identifikation der Menschen mit dem, was vor Ort ist. Zum anderen hat sich Düsseldorf bereits umgebaut, etwa die Rheinuferpromenade am Rand der Altstadt, die heute autofrei ist — öffentlicher Raum, der von vielen sehr geschätzt wird.


Plädoyer für Umbaukultur

Alle zwei Jahre erscheint der Baukulturbericht als offizieller Statusbericht zum Planen und Bauen in Deutschland. Der aktuelle Baukulturbericht 2024/25 „Infrastrukturen“ wurde Ende Mai im Bundeskabinett beschlossen und im Bundestag sowie Bundesrat behandelt.


Es gibt solche positiven Beispiele. Dennoch: Der Eindruck, den man gewinnt, wenn man in öffentlichen Räumen unterwegs ist, ist längst nicht immer positiv: laut, schlechte Luft, hässlich. Ist Deutschland in Sachen Baukultur Entwicklungsland?

Nagel: Das sehe ich nicht so. Wenn man an Skandinavien denkt, ist zwar sicherlich bei uns noch viel Luft nach oben — dort ist Baukultur Schulfach und spielt eine große Rolle. Bei uns hat sich das Bewusstsein für Baukultur als politische Aufgabe noch nicht wirklich durchgesetzt, hier sehe ich tatsächlich viel Potenzial. Aber es tut sich einiges. Etwa in Sachen Nachhaltigkeit sind wir inzwischen gut unterwegs. Sichtbar wird das zum Beispiel an den Zertifizierungsbemühungen oder den Baukulturberichten an die Regierung.

Wenn man sich für Baukultur engagiert, steht man vor sehr komplexen Herausforderungen. Wie kann, wie sollte man vorgehen?

Nagel: Bei der Qualität sollte man die Messlatte hoch hängen, aber nicht bei der Größe der Vorhaben. Man muss nicht mit einem Konzept für eine ganze Stadt losziehen, man kann sich auch auf ein Projekt konzentrieren. Zum Beispiel Gundelsheim bei Bamberg, eine Gemeinde mit 4000 Einwohnern: Dort ist man sehr aktiv in Sachen Baukultur. Eines der Projekte dort, das auch bundesweit für Aufsehen gesorgt hat, ist der Umbau eines aufgegebenen Bauernhofs in eine Gemeindebücherei. Ein kleines Projekt, aber eines mit Strahlkraft, das schon während der Planung viel bewegt, immer neue Ideen hervorgebracht und Menschen verbunden hat, die wieder neue Ideen hatten. Man kann klein anfangen, es lohnt sich aber, groß zu denken.

Haben es kleinere Gemeinden insofern leichter, als sie im besten Fall mehr Freiräume haben, die noch nicht zugebaut sind?

Nagel: Letztlich sind alle mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert: Man muss mit dem arbeiten, was da ist, mit Bestandsbauten und Baulücken, mit vorhandenen Straßen und Infrastrukturen. Großen Wert sollte man auf den Projektstart legen: die Phase Null.

Inwiefern ist gerade diese Phase entscheidend?

Nagel: Für sie braucht man in der Regel nicht viel Geld, aber Ideen und Engagement, man muss etwas in Bewegung bringen wollen. Das ist die Hürde, über die alle müssen, ob sie groß oder klein sind, viel Personal haben oder nicht: etwas anstoßen und Raum für Ideen geben, möglichst auch unterstützen, Wettbewerbe ausschreiben, die Menschen vor Ort einbinden.

Baukultur
Auch wenn nicht alles ankommt und die Kritik zum Teil heftig war: Insgesamt ist die HafenCity Hamburg für Reiner Nagel ein Beispiel für eine Transformation zum Besseren — hin zu mehr Attraktivität und Lebensqualität. Foto: Adobe Stock/Andreas

Auf der Internetseite der Bundesstiftung Baukultur werden mehr als 200 gute Beispiele genannt. Haben Sie ein Lieblingsbeispiel?

Nagel: Die HafenCity Hamburg, weil mich persönlich viel mit ihr verbindet. Ich habe in Hamburg 20 Jahre gelebt und an dieser Transformation mitgearbeitet. Trotz der zum Teil heftigen Kritik etwa an der Größe des Überseequartiers finde ich die Transformation gelungen: ein Projekt hochwertiger Baukultur, es bewegt sich etwas, Hamburg verbessert sich. Aber auch eine Mittelstadt wie Heilbronn finde ich bemerkenswert: Oberbürgermeister Harry Mergel arbeitet seit langem konsequent am Thema hochwertige Baukultur, meist mit Architektenwettbewerben. Auch dort ist viel in Bewegung.

Etliche Gebäude sind in Privatbesitz — wie viel Spielraum haben Kommunen überhaupt?

Nagel: Da ziehen dann die öffentlich-rechtlichen Instrumente wie Bau- und Planungsrecht. Umgekehrt ist die Hälfte des gebauten Umfelds in öffentlicher Hand. Städte und Gemeinden haben meist viel direkten Gestaltungsraum, den sie nutzen sollten. Schließlich geht es bei allen Bau- und Umbauvorhaben um nicht weniger als das Gemeinwohl und die Daseinsvorsorge.


Zur Person

Reiner Nagel ist Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur.


Interview: Sabine Schmidt