Laues statt Lösungsvorschläge im Bundestagswahlkampf

Welche großen Themen bewegen Deutschland im Wahljahr 2017 und wie stellen sich die Parteien jeweils dazu? Der Tübinger Politologe Hans-Georg Wehling wirft kurz vor der Wahl des 19. Bundestages einen Rundblick mit Fokus vor allem auch auf die Berührungspunkte von Bundespolitik und Kommunalpolitik.

Ist die Bundestagswahl vom 24. September 2017 nicht schon „gelaufen“? Das könnte meinen, wer sich die Umfragewerte anschaut. Die Bundeskanzlerin und ihre Partei – CDU und CSU – liegen kaum einholbar für die politische Konkurrenz vorne. Eine Wechselstimmung ist bislang nicht festzustellen. Der zunächst rasant gestartete Herausforderer Martin Schulz ist längst abgestürzt. Seine Themen wollten nicht so recht verfangen.

„Mehr Gerechtigkeit“ ist zweifellos ein wichtiges politisches Thema. Doch es ist nicht konkret genug. So mancher potenzielle SPD-Wähler, der es zu etwas gebracht hat, befürchtet, dass mehr Verteilungsgerechtigkeit auch ihn treffen könnte. Die SPD mag übersehen, dass es die klassische Arbeiterschaft kaum noch gibt. An ihr sich thematisch auszurichten, ist keine zielfördernde Strategie. Das Liebäugeln mit Rot-Rot-Grün erscheint so eher kontraproduktiv. Für die SPD gefährlich ist zudem der häufige Themenwechsel ihres Spitzenkandidaten im Wahlkampf. Da kann der noch nicht festgelegte Wähler in Richtung Sozialdemokraten fragen: Was hättet Ihr denn gemacht an der Stelle von Frau Merkel? Und wart Ihr nicht beteiligt als Partner in der Großen Koalition?

Versuchen wir, die für den Wahlkampf zentralen Themen zu betrachten, wie die politischen Wettbewerber sich dort positionieren und was der Wähler ihnen zutraut.

Als Thema Nummer eins rangiert die Flüchtlingsproblematik, ob es sich um die Bewältigung des Ansturms von jenseits des Mittelmeeres handelt oder um die Schwierigkeit der Integration. Mag die Eingliederung in den Arbeitsmarkt noch einigermaßen gelingen, die kulturelle und soziale Integration benötigt allen Erfahrungen nach Jahrzehnte. Hier sind die Kommunen und vor allem die Zivilgesellschaft vor Ort gefragt. Ohne deren Engagement kann es am Ende des Tages nicht heißen: „Wir haben es geschafft!“

Erfolg versprechende Konzepte zur Lösung dieses Problembündels kann keine der Parteien aufweisen. Das Mindeste, was erwartet werden kann, ist mehr Geld aus der Bundeskasse für die Gemeinden. Dazu besteht zumindest der gute Wille, bei allen Parteien.

Keine Freiheit ohne Sicherheit

Nicht allzu weit entfernt von diesem Megathema ist die innere Sicherheit. Gegen die Freiheit lässt sie sich nicht ausspielen. Denn es gibt keine Freiheit ohne Sicherheit, was jeder erfahren kann, der sich in „No-go-Areas“ bewegt. Das Gefahrenpotenzial in solchen Quartieren reicht von Wohnungseinbrüchen bis zu sexuellen Übergriffen wie Silvester 2015 in Köln und gewalttätigen Krawallen, die im Juli 2017 den G20-Gipfel in Hamburg begleiteten.

Alle Bundesländer rüsten in Bezug auf mehr Sicherheit auf, nicht zuletzt mit der Einstellung von Polizisten. Auch hier handelt es sich im Alltag auch um ein kommunales Thema. Unterschiede zwischen den Parteien gibt es da nicht, wenngleich die innere Sicherheit klassischerweise eher der CDU und CSU zugerechnet wird, am wenigsten noch den Grünen.

Als Thema Nummer drei gilt das Fehlverhalten der Automobilwirtschaft im Kontext der Feinstaub- und Dieselproblematik. Welcher Schaden ist hier angerichtet? Bedeutender noch: Welche Auswirkungen hat der Strukturwandel in der Automobilindustrie? Das gilt für den Arbeitsmarkt insgesamt, man denke daran, dass die Produktion von Elektroautos viel weniger Arbeitsstunden benötigt als die von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor. Hat die Industrie die Umschaltung verschlafen?

Das Thema Mobilität könnte sich in Hinblick auf die Wahl noch „auswachsen“. Für das Land Baden-Württemberg und seine Gemeinden zumindest ist klar, was das bedeutet: weniger Arbeitsplätze, weniger Steuereinnahmen. Damit wird man sich weniger leisten können gerade auch, was die Infrastrukturpolitik angeht, dem zentralen Politikfeld der Gemeinden.

Für die Position der Parteien bedeutet das: CDU/CSU und FDP gelten als wirtschaftsfreundlich, während die SPD als die „gute Mutter“ angesehen wird, die die Menschen vor allzu großer Not schützt. Auf der „grünen Seite“ steht indes: Wenn der Wohlstand auf dem Spiel steht, sinkt der Stellenwert des Umweltschutzes; die Klientel von Beamten und Angestellten trifft das am wenigsten. Die Strategie des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, gemeinsam mit der Wirtschaft die Probleme anzugehen, erscheint nachvollziehbar, ist es doch ein Rückgriff auf das Modell der Sozialpartnerschaft, das Deutschland so erfolgreich gemacht hat, in Unterschied zum Beispiel zu Frankreich, Großbritannien und Italien.

Zum wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands gehört, in Sachen schnelle Internet-Zugänge nachzurüsten und damit das Ziel Wirtschaft 4.0 voranzutreiben. Doch bei diesem vierten Thema sind keine Unterschiede zwischen den Parteien feststellbar.

Umweltpolitik als Allgemeingut

Das letzte Jahrzehnt ist charakterisiert durch Klimasprünge mit der Folge von Umweltkatastrophen wie Hochwasser und schweren Unwettern. Mit diesem Thema lässt sich nun wirklich kein Wahlkampf führen. Anders bei den Fragen der Luftreinhaltung, nicht zuletzt im Falle von Autoabgasen. Hier stehen die Grünen gut da wie bei allen Problemen, die die Umwelt betreffen, auch wenn diese Thematik längst Allgemeingut geworden ist. Selbstverständlich sind hier auch die Gemeinden gefordert, sie leisten bereits Beträchtliches.

Thema Nummer sechs ist das mangelnde Angebot an bezahlbaren Wohnungen in den größeren Städten und deren Umland. Betroffen sind vor allem diejenigen, die nur über ein geringeres Einkommen verfügen. Hier liegt seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert ein originäres Politikfeld der Gemeinden, die eigene Wohnungsbaugesellschaften gründeten und Genossenschaften anregten und unterstützten.

Allerdings gab es hier in letzter Zeit eine Privatisierungswelle, die Geld in die öffentlichen Kassen spülen sollte, um einen Beitrag zur Schuldensenkung zu leisten. So wurden zum Beispiel Beamtenwohnungen den Mietern zum Kauf angeboten, doch damit fehlten sie für künftige Staatsdiener. Letztlich trug diese Politik auch dazu bei, die Pendlerströme auf den Straßen unerträglich zu verstärken.

Wahlkampfthema Wachstum

Die „Charta von Athen“ von 1933 hatte es zwar gut gemeint, die Trennung der Lebenssphären zu propagieren: Wohnen, Arbeiten, Freizeit, Verkehr. Inzwischen ist die Wohnungsnot erschreckend hoch nicht im ländlichen Raum, wo es teilweise erheblichen Leerstand gibt, sondern im Umland der Städte.

Mehr Geld für den Wohnungsbau ist dringend erforderlich, die Absenkung bürokratischer Hürden ebenfalls. Doch man muss sich auch die Ursachen vergegenwärtigen: Die Ansprüche – quantitativ wie qualitativ – sind erheblich gestiegen, auch die Zahl der Ein-Personen-Haushalte nimmt deutlich zu. Der Wunsch, urban zu leben, ist stärker geworden. Natürlich hat auch der Flüchtlingsstrom wohnungspolitische Konsequenzen. Herausgefordert sind alle politischen Ebenen.

Übersehen werden darf nicht, dass Wirtschaftswachstum Fläche braucht und so mit umweltpolitischen Zielen in Konflikt gerät. Ein aktuelles Beispiel ist die gewünschte Expansion von Mercedes-Benz im Raum Rastatt/Baden-Baden. Hinzu kommt: Wer Betriebe zur Niederlassung anlocken will, muss auch Gelände für die Villen des Managements anbieten können.

Martin Schulz wie auch die baden-württembergische SPD haben das Thema Gerechtigkeit an die Spitze gestellt. Zweifellos ein wichtiges Thema, wenn man sieht, dass nicht wenige Menschen von ihren Einkommen allein nicht leben können, und wenn man auf die Altersarmut schaut, das alles in Kontrast zu den hohen Gehältern und Boni so mancher Manager.

Hier aber kann Landes- und Kommunalpolitik wenig ausrichten. Allenfalls kann Druck ausgeübt werden. Gleiches gilt für Wohltaten, die der Bund beschließt, die aber von den Gemeinden umgesetzt und finanziert werden müssen. Nicht immer greift da das Konnexitätsprinzip, zumindest nicht in vollem Umfang.

Wahlen sind nicht zuletzt dazu da, Probleme sichtbar zu machen und Lösungsvorschläge vorzulegen, die dann von der Wählerschaft diskutiert werden sollen. Doch daran fehlt es. Die Bundesrepublik wirkt wenig zukunftsorientiert. Besser sieht es aus, wenn es um das Personalangebot geht: Merkel oder Schulz. Zurück zur Eingangsfrage: Ist wirklich alles schon „gelaufen“? Bis zum Wahltag kann noch vieles passieren, was die Wahlabsicht beeinflussen kann.

Hans-Georg Wehling

Der Autor
Prof. Dr. Hans-Georg Wehling ist Politikwissenschaftler an der Universität Tübingen