Die große Politik entdeckt die Dörfer. Mit einem Bundes-Heimatministerium will die Union dem Gefühl des Abgehängtseins vieler Bürger entgegenwirken,
das Agrarministerium tritt an, den ländlichen Regionen per eigens gestricktem Aktionsbündnis mehr Bedeutung zu geben. Kann das funktionieren?
Der nächste Facharzt zig Kilometer weit entfernt, kein Lebensmittelgeschäft am Ort, Busverbindungen in die Kreisstadt zweimal am Tag, Internetverbindungen mit Datenübertragungsraten aus grauer Digitalisierungsvorzeit – und ohne kulturelle Angebote insgesamt „tote Hose“ im Dorf: So sieht Landleben für die Bevölkerung in vielen Regionen der Bundesrepublik aus. Wer jung und noch nicht automobil ist oder aber alt und aus seinem Verantwortungsgefühl heraus auf den eigenen Pkw verzichtet, fühlt sich „auf dem Land“ oft regelrecht abgehängt. Hinzu kommt für die Menschen im erwerbsfähigen Alter die Schwierigkeit, in erträglicher Entfernung vom Wohnort überhaupt einen Arbeitsplatz zu finden. Ganz zu schweigen von interessanteren, besser bezahlten Alternativen zum aktuellen Job.
Wer in Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern junge Dorfbewohner nach ihren beruflichen Vorstellungen fragt, hört nicht selten ein durchaus ernst gemeintes „Hartz IV“. Und in Nordostsachsen, in den Gemeinden nahe der polnischen Grenze, geben die Immobilienangebote in der Tageszeitung ein beredtes Zeugnis, wie es um Attraktivität und Wirtschaftskraft des ländlichen Raums dort bestellt ist.
Allerdings hat in den letzten Jahrzehnten nicht alle ländlichen Regionen eine Abwärtsentwicklung getroffen. Vor allem in Bundesländern mit einer starken Wirtschaftsstruktur wie Baden-Württemberg oder Bayern prosperieren die ländlich geprägten Räume. Impulse gehen dort vielfach von nahen urbanen Zentren aus. Sie bringen als Folge einer guten wirtschaftlichen Entwicklung Beschäftigung, Wohnungsnachfrage und Steuermittel auch ins Umland. Umgekehrt sind in schwach entwickelten Regionen die Großstädte Magneten für Menschen und Unternehmen und befördern dort das Ausbluten der Dörfer.
Im Hinblick auf die Perspektiven der ländlichen Räume lässt sich auf die Deutschlandkarte keine Schablone legen – Niedergang findet nicht selten in relativer Nähe zum Aufschwung statt. Genauso schwierig ist es, Gründe dafür zu benennen, warum es in einer wirtschaftsstarken Nation wie Deutschland Kreise gibt, die sich als Armenhaus bezeichnen lassen müssen. Oder dieses Jammertal hinter sich gelassen haben, wie etwa das lange als rückständig und bar einer Zukunft belächelte Emsland.
„Land“ ist demnach nicht gleichzusetzen mit „abgehängt“. Beispiel Landkreis Dingolfing-Landau in Niederbayern. Er gilt als wirtschaftlich stärkster Kreis in Deutschland und ist dabei deutlich ländlicher geprägt als schwächere Regionen. Und insgesamt ist der ländliche Raum zumindest nach den Erkenntnissen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln nicht so schwach, wie es Medienberichte über Entvölkerung und wirtschaftlichen Niedergang in manchen Regionen vermuten lassen. Trotz des andauernden Zuzugs in die Städte holt laut der IW-Ökonomen das Land bei der Wirtschaftskraft auf. Sein Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) blieb konstant, sodass der BIP-Rückstand je Einwohner im Vergleich mit den Zentren seit dem Jahr 2000 spürbar abnimmt.
Komplexe Zusammenhänge
Die Wirtschaftsforscher sehen keine zunehmende wirtschaftliche Spaltung, sondern eine Anpassung zwischen städtischen und ländlichen Regionen. Ein Grund zur Entwarnung ist dies allerdings nicht. Es gibt laut IW weiter erheblichen regionalpolitischen Handlungsbedarf. Denn die Alterung der Gesellschaft wird sich nach Einschätzung der Ökonomen zumindest in manchen ländlichen Regionen sehr viel eher und stärker auswirken. Verschlechtert sich das Verhältnis zwischen arbeitenden Menschen und Ruheständlern spürbar und verstärkt sich der Fachkräftemangel, könnte die Wirtschaft dem Verstädterungstrend zeitversetzt folgen.
Es sind komplexe Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, die die Perspektiven ländlicher Räume beeinflussen – positiv wie negativ. Nicht alles lässt sich allein unter die Überschriften „Demografischer Wandel“, „Niedergang der Industriekerne“ oder „Urbanisierungstrend“ einordnen. Etwa das Sterben kultureller Einrichtungen in den Dörfern: es ist durchaus auch Folge des politischen Anspruchs, den Bürgern grenzenlose Mobilität zu sichern. Die per Auto recht schnell erreichbare größere Stadt in der Region lockt mit vielfältigen Freizeitangeboten, da kann das Landkino nicht mehr mithalten. Gleichzeitig darbt der öffentliche Personennahverkehr, weil ihm nun die Fahrgäste fehlen.
Die große Politik hat lange zu sehr auf die urbanen Zentren und die Aufgaben dort geschaut und dabei vergessen, dass fast 70 Prozent der Deutschen in Kommunen mit weniger als 100 000 Einwohnern leben – davon wiederum über 40 Prozent in Dörfern und Städten mit nicht mehr als 20 000 Einwohnern.
Zwar sind in den vergangenen Jahrzehnten viele Milliarden Euro zugunsten von Projekten der Entwicklung des ländlichen Raums geflossen. Dies allerdings vielfach nach dem Gießkannenprinzip, als politische Geschenke oder Prestigevorhaben und ohne genaue Betrachtung der miteinander verwobenen Faktoren, die in strukturell schwachen Räumen den Abschwung verstärken können. In dieses Bild passt auch, dass es sich EU, Bund und Länder seit jeher sehr einfach machen mit immer neuen Förderprogrammen und Subventionen. Deren Wirksamkeit aber wird meist nicht in der gebotenen Differenziertheit hinterfragt.
Schwierig macht die Stärkung ländlicher Regionen auch, dass dafür integrierte Pläne fehlen. Wirtschaftliche Entwicklung und Lebensverhältnisse auf dem Land werden durch viele Politikbereiche beeinflusst – Verkehrspolitik, Arbeitsmarktpolitik, Raumordnungspolitik, Gesundheitspolitik und Schulpolitik. Fehlt es hier an politischer Abstimmung und werden zentrale Projekte nicht zwischen den Ministerien koordiniert, entfalten sie nur eine begrenzte Wirkung oder zeigen gar unerwartete negative Nebeneffekte.
Ob mit bundesdeutschem Heimatminister Horst Seehofer oder einer Agrarministerin Julia Klöckner, die jüngst das Aktionsbündnis „Leben auf dem Land“ startete (s. dazu Interview), die Sicherung der Zukunft ländlicher Regionen wird zuallererst drei Dinge brauchen: die Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung mit neuen Überlegungen zur Verlagerung von Aufgaben und Finanzen auf die lokale Ebene, mehr rechtliche Freiräume für die Bewältigung der aktuellen und künftigen Herausforderungen und mehr Freiheit für das Erproben neuer Lösungen für anstehende Aufgaben.
Wolfram Markus