
Die Monofunktionalität von Räumen können wir uns zukünftig nicht mehr leisten, findet Gastautor Hannes Bäuerle. Mit einem preisgekrönten Projekt seines Planungsbüros liefert er ein Beispiel, wie Retentionsflächen sozial und ökologisch wertvoll in die Quartiersplanung integriert werden können.
Wie kann ein Wandel hin zu einer sozialen Ökologisierung unseres Lebensumfelds gelingen? Hierfür braucht es ein Um- und Neudenken in der Entwicklung und Nutzung des vorhandenen Bodens. Unsere Ressourcen sind endlich, auch die der verfügbaren Flächen. Der immer weiter fortschreitende Wegfall von land- und forstwirtschaftlicher Nutzung und das Versiegeln des offenen Bodens führt unter anderem zu solch katastrophalen Ereignissen wie in diesem Sommer in Nordrhein-Westfalen oder Rheinland-Pfalz.
Retentions- und Verdunstungsräume fehlen vielerorts, Pflanzflächen und Gehölzstrukturen, die der Erosion durch Wind und Wasser entgegenwirken können, werden baulich umgenutzt, vor allem im besiedelten Bereich. Gleichzeitig besteht ein Mangel an Freiflächen im nahen Lebens- und Wohnumfeld. Räume für soziales Miteinander, Spiel- und Bewegungsangebote für alle Generationen sowie Flächen zur Selbstaneignung mit nutzungsoffenen Möglichkeiten fehlen flächendeckend in bewohnten Gebieten. Dabei sind es gerade diese Orte, die von höchster Wertigkeit für unsere Gesellschaft und unser Lebensumfeld sind. Jedoch erfahren sie bisher wenig Wertschätzung, auch im monetären Sinn.
Die Monofunktionalität von Räumen, beispielsweise als reine Bau-, Parkierungs- oder Freifläche können wir uns künftig nicht mehr leisten. Wir benötigen Flächen, die vielfache Nutzungen übernehmen können. Gleichzeitig müssen sie wirtschaftlich umsetzbar sein sowie langfristig in der Unterhaltung funktionieren. Klimatische, ökologische und soziale Aspekte müssen gleichermaßen Beachtung finden.
Flächen brauchen Mehrfachnutzen
Die fehlenden Freiraumangebote zur Freizeitgestaltung sowie der nicht vorhandene Retentionsraum für Niederschläge in bebauten Gebieten schließen sich als gemeinsame Nutzung einer Fläche bisher fast immer aus. Dabei können bei geeigneter Flächenbeschaffenheit und ortsangepasster Planung hier multifunktionale Räume entstehen, die eine hohen Aufenthaltsqualität bieten und gleichzeitig als Klimaraum mit Verdunstungskühlung und Versickerung dienen.
Vielerorts gibt es in bebauten Gebieten keine Zugänge und Aufenthaltsmöglichkeiten für Menschen an Gewässern. Gleichzeitig fehlt kanalisierten Flüssen oder Bächen der Raum zur Überflutung oder Retention. Auenbereiche an Gewässern bieten vielfältige Habitate für Pflanzen und Tiere und leisten einen wichtigen Beitrag zum Artenschutz. Durch nachhaltige Planung und Umsetzung kann eine Aufwertung erzielt werden, die vielfache Nutzungen auf einer Fläche bietet und gleichzeitig für ein ausgewogenes Miteinander sorgt.
Klimagerecht planen
Wie solch eine Umsetzung für die Zukunft aussehen kann, zeigt das nachfolgende Beispiel eines Wettbewerbs aus Kirchheim unter Teck in Baden-Württemberg, der von unserem Büro gemeinsam mit UTA Architekten entworfen und mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde. Auf einem ehemaligen und brachliegenden Güterbahnhofsareal wird künftig ein Wohnquartier entstehen, welches unter sozialen, ökologischen und klimatischen Gesichtspunkten geplant und umgesetzt werden soll. Ebenso sind die Themen Mobilität der Zukunft, Car- und Bike- Sharing sowie der naheliegende ÖPNV wichtige Bestandteile der Konzeption.
Die langgestreckte Entwicklungsfläche liegt parallel zur S-Bahn-Verbindung und in naher Umgebung bestehender Wohnquartiere. Im Zentrum des Gebietes befindet sich ein brachliegender Entwässerungsgraben, der jedoch funktional und gestalterisch nicht den aktuellen Anforderungen entspricht.
Kalte Luft fürs Quartier
Ausgehend von der Bestandssituation wurde die zukünftige Bebauung so gesetzt, dass Kaltluftströme weiterhin für eine Be- und Entlüftung des Quartiers sorgen und gleichzeitig attraktive und funktionale Wohnangebote für alle Einkommensschichten entstehen können. In kleineren Hofgruppen, mit Angeboten für die Gemeinschaft in den Erdgeschossen, entstehen kommunikative Räume, die der Begegnung und dem Austausch zur Verfügung stehen und gleichzeitig für Kleinkinder Spiel- und Bewegungsangebote schaffen.
Der brachliegende Entwässerungsgraben wird weiterhin als Retentionsraum zur Verfügung stehen, mehr Niederschläge zwischenspeichern können und gleichzeitig ein attraktiver Ort für alle Generationen werden. Spiel-, Sport- und Bewegungsangebote bieten vielfältige Möglichkeiten und im Schatten bestehender sowie neuer Bäume kann die Gemeinschaft zusammenkommen.
Starkregen versickern lassen
Im Starkregenereignis kann die Fläche überflutet werden und gibt die Wassermassen über Versickerungseinrichtung zielgerecht an den Boden ab. Naturnahe Gewässerrandstreifen mit Gehölzstrukturen bieten den angesiedelten Arten Lebens- und Nahrungsraum und schaffen so einen Ausgleich zum Eingriff durch die Baumaßnahmen.
Dieses Beispiel zeigt, wie wir multifunktionale Freiräume schaffen und ausbilden können und dabei den Anforderungen einer klimagerechten, sozialverträglichen und umwelt-sichernden Planungs- und Bauweise gerecht werden können. Lösungen für die Aufgaben unserer Zeit fordern Visionen und Konzepte, die weit über die Planungs- und Bauzeit hinausgehen. Planen für die Zukunft und nicht aus der Vergangenheit, das ist unsere Aufgabe.
Der Autor: Hannes Bäuerle ist Freier Landschaftsarchitekt und Freier Stadtplaner mit Bürositz in Stuttgart. Er ist Mitglied im Bund Deutscher Landschaftsarchitekten (BDLA) und Mitglied im Städtebauausschuss der Landeshauptstadt Stuttgart.