Deutschlandticket als Meilenstein für die Mobilitätswende

Darum geht es: ein attraktives ÖPNV-Ticket, mit dessen Hilfe der Autoverkehr deutlich reduziert wird – das Deutschlandticket für 49 Euro ist für den VDV-Präsidenten ein Schritt in die richtige Richtung. Doch relevante Finanzierungsfragen sind noch offen. Foto: Adobe Stock/Christian Müller

Viel ist erreicht, noch aber steht auch viel aus: Präsident Ingo Wortmann erklärt, was aus Sicht des Verbands der Verkehrsunternehmen (VDV) dringend erforderlich ist, damit die Mobilitätswende nicht zur Endstation Sehnsucht wird.

Deutschlands Kommunen und die Verkehrsunternehmen erleben Jahre des Dauerstress. Nach Jahrzehnten des öffentlichen Sparzwangs bei Bund, Ländern und Kommunen – gerade bei Bus und Bahn, beim Trimmen der Unternehmen auf Effizienz, oft zu Lasten von Investitionen in Infrastruktur, Fahrzeuge und Personal –, setzte sich überparteilich die Erkenntnis durch, dass ein „Weiter so“ in der Verkehrspolitik nicht mehr vertretbar ist.

Klimafreundliche Busse und Bahnen sollten endlich aufgewertet, modernisiert und ausgebaut werden, damit sie ihren Beitrag leisten können. Nicht nur für das Klima, auch für lebenswertere Kommunen, für mehr Teilhabe der Menschen, die aus unter-schiedlichsten Gründen kein Auto besitzen oder steuern können, für weniger Feinstaubemissionen sowie für eine höhere Verkehrssicherheit. Die Branche war von Beginn an Teil der Lösung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Zielstellungen.

Und tatsächlich, seitens des Bundes wurden Ende 2019 erste Beschlüsse gefasst, um die Branche auf Kurs zu bringen: Im Zuge des Klimakabinetts und in Folge eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts wurden – flankiert durch EU-Vorgaben – die Ziele für das Einsparen klimaschädlicher Gase und für den Ausbau von Bus und Bahn erhöht. Die Gemeindeverkehrsfinanzierung wurde angepasst, und weitere sachgerechte Gesetze wurden erlassen.

Mehr Personal im ÖPNV wird gebraucht

Branche und Kommunen begrüßten diese überfällige Kehrtwende, erarbeiteten erste Ausbau- und Modernisierungspläne – und mussten sich zunächst einer völlig neuen Herausforderung stellen: Der Corona-Pandemie, die uns bis heute wellenartig buchstäblich den Atem nimmt – mit anfangs beispiellosen Rückgängen bei den Fahrgastzahlen und Auswirkungen, die wir bis heute auch bei den Krankenständen der Kolleginnen und Kollegen schmerzlich zu spüren bekommen. Sie sind überdurch-schnittlich hoch und treffen auf eine Personaldecke, die zu kurz für die bestehenden und anstehenden Aufgaben ist.

Auf dem Stellenmarkt der VDV-Arbeitgeberinitiative (in-dir-steckt-Zukunft.de) sind weit mehr als 10.000 Positionen offen: Fahrpersonal, Ingenieurinnen und Ingenieure, IT-Fachkräfte – die Branche sucht in allen Bereichen und bietet sichere, sinnstiftende Jobs vor Ort.

Angesichts des weiterhin steigenden Durchschnittsalters in unserer Branche wird der Handlungsbedarf immer drängender: Bis zum Jahr 2030 müssen altersbedingt allein im ÖPNV 74.000 Mitarbeitende ersetzt werden. Hinzu kommen 110.000 Mitarbeitende, die für die Entwicklung des Bus- und Bahnangebotes und damit für die angestrebte Mobilitätswende erforderlich sind. Viele Unternehmen fahren schon jetzt nicht das volle Angebot, dünnen Linientakte aus. Manch Schulbus erscheint morgens nicht, weil ein Fahrer fehlt.

Bürgerinnen und Bürger entlasten

Nach einem Sommer, in dem über Monate der öffentliche Nah- und Regionalverkehr im Fokus stand, mit außerordentlichen Akzeptanz- und Sympathiewerten für das 9-Euro-Ticket und damit – man bedenke: im Grunde unverändert in der Pandemie – die ganze Bus- und Bahnbranche eine unverhoffte Neubelebung feiern durfte, wird in diesen Wochen und Monaten klar, was der eigentliche Beweggrund für dessen Einführung war: Eine soziale Maßnahme, die Bürgerinnen und Bürger aufgrund der gestiegenen Verbraucherpreise entlasten, also die Folgen der gewaltsamen russischen Aggression in der Ukraine hierzulande mildern sollte.

Der Krieg fordert weitere Opfer, und die Preise sind ungebrochen hoch, nicht nur für die Verbraucherinnen und Verbraucher, sondern allen voran auch für die Verkehrs-unternehmen, die mit unvergleichlichen Kraftstoff- und Strom preisen zu kämpfen haben. Damit ist klar, was in den nächsten Monaten und Jahren stets an erster Stelle stehen muss, um überhaupt den Status quo bei Bus- und Bahnangebot beizubehalten: Dem Ausgleich der gestiegenen Kosten muss begegnet werden – Bund und Länder sind hier in der Pflicht.

Darüber hinaus sei daran erinnert, dass die Ampel sich im eigenen Koalitionsvertrag vorgenommen hat, bereits dieses Jahr die Regionalisierungsmittel – und damit die wesentliche Finanzierung für Bus und Bahn auf staatlicher Seite – zu erhöhen.

Deutschlandticket ist ein gutes Signal

Die bundesweite Marktforschung zum 9-Euro-Ticket brachte ein ganzes Bündel an Erkenntnissen an den Tag. Insgesamt wurden 52 Millionen Tickets verkauft. Zählt man die etwa zehn Millionen ÖPNV-Abonnentinnen und -Abonnenten hinzu und analysiert die Zahlen zur Bekanntheit (98 Prozent) und die Anzahl der Neukunden (jeder Fünfte), kann man sagen: Es war ein großer Erfolg, mit dem so nicht unbedingt zu rechnen war.

Die Verkehrsunternehmen haben geliefert, sie organsierten den bundesweiten Vertrieb in kürzester Zeit und stellten den Betrieb sicher – teilweise mit einer Belastung von Menschen und Fahrzeugen bis zur Grenze des Vertretbaren. Zehn Prozent der Fahrten mit dem 9-Euro-Ticket ersetzten Fahrten, die sonst mit dem PKW gemacht worden wären. Neben dem Preis gaben 40 Prozent der Befragten die „Flexibilität der Nutzung“ überregional über Tarifgrenzen hinweg und „Verzicht auf Autofahren“ als Hauptkaufgründe an.

Darum ist es richtig, dass Bund und Länder sich auf ein Deutschlandticket für 49 Euro verständigt haben, auch wenn noch relevante Finanzierungsfragen offen sind. Es kommt einer Ticket-Revolution gleich, die über ein verständliches und flexibles Produkt für ganz Deutschland viele zusätzliche Fahrgäste in das System bringen wird. Einmal eingeführt, werden die Auswirkungen auf das bestehende Ticketsortiment sofort zu spüren sein.

Bewegung im ländlichen Raum

Doch nicht alle werden einsteigen können, auch das zeigt die Marktforschung: In ländlichen und strukturschwächeren Gebieten war der Anteil der 9-Euro-Ticket-Besitzer etwa halb so hoch wie in städtischen Gebieten. Als Grund wird oft das unzureichende ÖPNV-Angebot genannt. Im ländlichen Raum dominieren als Nichtkaufgründe umständliche Verbindungen, Taktung, Fahrtdauer und Entfernung zur Haltestelle.

Es ist deutlich geworden: Ein noch so günstiges Ticket wird vor Ort nicht angenommen werden, wenn das Bus- und Bahn-Angebot nicht stimmt. Erst wenn sich in den Kommunen etwas bewegt, können wir wirklich von einer Mobilitätswende für Deutschland
sprechen. Erst wenn wir den klassischen Linienverkehr bis weit in die Randgebiete der Städte und Metropolen erweitern und um flexible Kleinbusse ergänzen, die man On Demand per App ordern kann, werden die Leute auch einsteigen.

Dank der Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes wird es Ende 2022 über 80 neue Projekte geben. Aktuell sind mehr als 400 Fahrzeuge in diesem Bereich unterwegs. Diese Entwicklung zeigt eindrucksvoll, dass die Branche den politischen Auftrag aus der Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes umsetzt.

Finanzielle Bedingungen noch offen

Die Verkehrsunternehmen und Verbünde sind dabei, neue Linienbedarfsverkehre anzubieten und bestehende Angebote auszubauen, auch außerhalb der Großstädte und Ballungsräume: 47 Prozent aller On-Demand-Verkehre sind im ländlichen Raum und in Kleinstädten unterwegs, 26 Prozent in Mittel- und Oberzentren, 14 Prozent im suburbanen und 13 Prozent im urbanen Raum.

Bei den Projekten im ländlichen Raum gibt es nun flexible Angebote, wo vorher überhaupt keine waren. Zudem zeichnet sich ab, dass schwach ausgelastete Linienverkehre dort eher auf On-Demand-Angebote mit mehreren kleineren Fahrzeugen umgestellt werden. So werden effektiv Leerfahrten vermindert und stattdessen die Mobilitätsbedürfnisse unserer Fahrgäste flexibel und mit hohem Komfort bedient.

Doch auch diese Angebote kosten Geld: Bis 2030 braucht die Branche rund 3,8 Milliarden Euro zusätzlich, allein damit On-Demand-Verkehre in Deutschland flächendeckend im Regelbetrieb fahren können. Der neue Rechtsrahmen bietet gute Vorrausetzungen. Was noch fehlt, sind die finanziellen Bedingungen, um die neuen Angebote nachhaltig betreiben zu können. Die Verkehrsunternehmen und Kommunen wollen die Mobilitäts-wende, doch die Rahmenbedingungen reichen in vielen Bereichen bislang nicht aus. Ingo Wortmann

Der Autor: Ingo Wortmann ist Präsident des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen VDV.