Perspektiven der Mobilität

Für den ländlichen Raum gewinnt die Frage nach der flächendeckenden Unterhaltung der bestehenden Infrastrukturen zunehmend an Bedeutung. Damit die Kommune nicht Gefahr läuft, handlungsunfähig zu werden, braucht sie ganzheitliche Lösungsansätze, bei denen auch eine moderierte Schrumpfung kein Tabu sein darf.

Der demografische Wandel, die zunehmende Digitalisierung und die anhaltenden Urbanisierungstendenzen, aber auch die Frage nach dem Umgang mit Emissionen und Ressourcen, stellen die Politik und Planung vor große Herausforderungen in Deutschland. Derzeit erleben wir im fachlichen Diskurs eine ausgeprägte Polarisierung zu Gunsten von Fragestellungen, die das städtische Umfeld betreffen. Dies zeigen unter anderem Standpunktpapiere wie „Neues Zusammenleben in der Stadt“ des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit von Oktober 2015 sowie die in der öffentlichen Wahrnehmung sehr präsenten neuen Mobilitätsdienstleistungen, so zum Beispiel die Carsharing-Systeme der großen Automobilhersteller.

Für die ländlichen Räume ist die Gefahr einer „Abwärtsspirale“ dadurch spürbar, dass es dort immer schwieriger wird, die Leistungen der Daseinsvorsorge aufrechtzuerhalten. Dennoch wird der Diskurs um den ländlichen Bereich bisher zumeist auf die Themenfelder der Breitbandversorgung, der Förderung des ländlichen Tourismus und der Frage der Finanzierung des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) reduziert. Dies mag vor allem damit zusammenhängen, dass die Auseinandersetzung mit der Perspektive der Schrumpfung in einem auf Wachstum ausgerichteten Wirtschaftsverständnis politisch wenig opportun erscheint.

Allerdings wird gerade für den ländlichen Raum die Frage nach der flächendeckenden Unterhaltung der bestehenden Infrastrukturen (u. a. Straßen, Schulen, medizinische Versorgung) in den kommenden Jahren zu einem immer drängenderen Thema werden. Experten warnen sogar vor dem Bankrott einzelner ländlicher Kommunen, da die Unterhaltungskosten für die Infrastruktur die Einnahmen übersteigen.

Vor dem Hintergrund dieser vielfältigen tiefgreifenden Veränderungen und Entwicklungen wirkt die Konzentration auf Einzelmaßnahmen, wie beispielsweise die Mobilitätssicherung durch rein bürgerschaftliches Engagement (sogenannte Bürgerbusse), recht kurzsichtig. Damit die Kommune nicht Gefahr läuft, handlungsunfähig zu werden, braucht sie ganzheitliche Lösungsansätze, bei denen auch eine moderierte Schrumpfung kein Tabu sein darf.

Identifikation von Konzeptansätzen

Vor dem Hintergrund der komplexen Zusammenhänge von Mobilität, Infrastruktur und Raumentwicklung erscheint aus verkehrlicher Sicht für eine mittel- und langfristige Strategie die politische und planerische Auseinandersetzung mit folgenden Themenfeldern in naher Zukunft zwingend:

Resiliente Infrastrukturnetze: Bei einem Rückgang der Einwohnerzahlen können langfristig keine doppelten Wegenetze mehr finanziert werden. Um diese Übersättigung zu reduzieren, gilt es Zentralitäten, Hauptstrecken und untergeordnete Straßen auch unter dem Aspekt der zukünftigen Bevölkerungsentwicklung oder planerischen Schwerpunktbildung zu analysieren. Auf dieser Grundlage können Potenziale für einen Rückbau identifiziert werden und es lässt sich ein Netz entwickeln, das nachhaltig und funktionsgerecht unterhalten werden kann. Eine grundlegende Voraussetzung für eine solche Entwicklung ist neben der politischen Bewusstseinsbildung auch die Anpassung der Infrastrukturförderung des Bundes und der Länder.

Mikro-Zentralitäten als Mobilitäts-Stationen: Analog zum Rückbau müssen die freiwerdenden finanziellen und planerischen Ressourcen zur Stärkung der identifizierten Zentren genutzt werden. Durch eine solche Bündelung von infrastrukturellen Ausbauten, medizinischen Einrichtungen, ÖPNV-Angeboten sowie kommunalen Dienstleistungen können sich positive Impulse für die Lebensqualität entwickeln. Auch sind diese Orte zwingend, um für die Bevölkerung die Vorteile der teilweise schmerzhaften Eingriffe sichtbar zu machen und langfristig die Zustimmung für den notwendigen neuen politischen Kurs zu sichern.

Dass eine Zentralisierung mit ihren spürbaren Vorteilen auch im Kontext der Flüchtlingsunterbringung von Bewohnern durchaus positiv wahrgenommen werden kann, zeigt das Beispiel des Dorfes Neuenfelde bei Hamburg. Hier kämpften 2015 die Bürger für die Verlagerung der Flüchtlingsunterkunft in das Dorfzentrum, da mit dieser Ansiedlung die Verbesserung des ÖPNV-Angebotes für das Dorfzentrum erreicht werden sollte.

Das mehrfach ausgezeichnete Konzept DORV (Dienstleistung und Ortsnahe Rundum Versorgung) zeigt seit über neun Jahren, wie eine Bündelung von Dienstleistungen, kulturellen Angeboten, Nahversorgung und bürgerschaftlichem Engagement rund um die Nahversorgung im ländlichen Raum erfolgreich umgesetzt werden kann. Durch die Integration von Mobilitätsbausteinen (wie hochwertige ÖPNV-Angebote, Paketdienstleistungen, Fahrraddienstleistungen, Leihautos und -fahrrädern) könnten diese Zentren in ihrer Funktion weiter gestärkt werden. Hierfür bieten sich sogenannte „Orte des Alltags“, also zum Beispiel Supermärkte, Schulen und auch Tankstellen als Startpunkt an, da sich diese ohnehin durch ihre sozialräumliche Bedeutung auszeichnen.

Neue Formen des ÖPNV: In vielen ländlichen Gebieten besteht das ÖPNV-Angebot aus einem zweistündigen Bustakt oder sogar nur aus zweimal täglich verkehrenden Schulbussen. Eine Ergänzung des Angebotes durch sogenannte Rufbusse ist bereits weit verbreitet, weist aber durchaus gewisse Nachteile wie Inflexibilität durch feste Abfahrzeiten und lange Vorlaufzeiten auf. Aus dieser gefühlten „Nichtverfügbarkeit“ folgt nicht selten auch eine fehlende Auslastung der oft teuren Angebote.

Um ein Angebot vorzuhalten, das stark am Bedarf orientiert ist, werden seit Längerem Projekte mit flexibleren Fahrplänen getestet – bisher mit geteilten Erfahrungen. Im skandinavischen Raum werden diverse flexible Bussysteme betrieben (Kutsuplus in der Peripherie von Helsinki, Kimppakyyti in der Region Lieksa), die bisher aufgrund der niedrigen Auslastung und hohen Subventionen nach einer Startphase häufig eingestellt werden.

Grenzen klassischer Verkehrsangebote überwinden

Die zunehmende Verbreitung neuer Kommunikationsmedien bietet interessante Perspektiven für neue Angebotsformen. Hierfür bedarf es aber einer leistungsstarken und flexiblen Systemarchitektur und einer nutzerfreundlichen Software. Es ist nur schwer vorstellbar, dass dies von einer öffentlichen Einrichtung bewältigt werden kann.

Eine App-basierte Bestellung könnte eine nachfrageorientierte Disposition der Fahrzeuge und Routing ermöglichen. Plattformen wie Flinc oder Uber könnten zukünftig bei der Bestellung des ÖPNV mit eingebunden werden. Um Konflikte beziehungsweise Verdrängung unterhalb der Angebote zu vermeiden, gilt es die klassischen Grenzen zu überwinden und ein gemeinsames System zu entwickeln. Diese muss eine Strategie für den Ausbau, Betrieb und Finanzierung ein solchen Systems fokussieren. Hierbei muss beispielsweise auch eine teilweise Legalisierung und Subventionierung von Angeboten wie Uber in nachfrageschwachen Gebieten diskutiert werden.

Als Referenz-Modell für einen ambivalenten Umgang mit privaten Transportdienstleitungen kann die Hauptstadt Lettlands, Riga, dienen. Statt des sonst üblichen Verbotes halblegal betriebener Linientaxen beziehungsweise der Minibusse erhalten deren Betreiber einen Zuschuss für die Einhaltung von Sicherheitsstandards. Im Gegenzug garantieren sie, keine Passagiere entlang von städtischen Buslinien aufzunehmen. Im Ergebnis wird das öffentliche Bussystem um ein halböffentliches Liniennetz außerhalb der Reichweite des klassischen ÖPNV sinnvoll ergänzt.

Konrad Rothfuchs / Christian Scheler

Die Autoren
Konrad Rothfuchs ist Geschäftsführer, Christian Scheler ist Mitarbeiter der Argus Stadt- und Verkehrsplanung in Hamburg

Info: Herausforderung „Ländliche Mobilität“

Von welchen Überlegungen sollten sich Kommunen leiten lassen, wenn es um die zukunftsfähige Weiterentwicklung der Strukturen und Angebote im Mobilitätssektor geht? Nachfolgend das Wichtigste im Überblick:

  • Keine Angst vor dem Rückbau! – Für ein nachhaltiges und bedarfsorientiertes Straßennetz ist ein bewusster Rückbau von Infrastrukturen in der Fläche unabdingbar. Eine grundlegende Voraussetzung für eine solche Entwicklung ist die politische Bewusstseinsbildung.

  • Stärken Sie die Zentren-Bildung! – Supermärkte sind gerade in einer alternden Gesellschaft Orte der Begegnung und müssen zu Mikro-Zentren weiterentwickelt werden. Durch eine Bündelung von infrastrukturellen Ausbauten, medizinischen Einrichtungen, kommunalen Dienstleistungen, ÖPNV- und Mobilitätsangeboten können nachhaltig positive Impulse für die Lebensqualität in der Region gegeben werden sowie fuß- und fahrradfreundliche Einzugsradien gewährleistet werden.

  • Überdenken Sie den klassischen ÖPNV! – Um die Mobilitätsbedürfnisse in der Fläche bedarfsgerechter zu bedienen, gilt es die Chancen der Digitalisierung zu nutzen. Hierfür müssen die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Verkehr aufgeweicht werden und neue Kooperationen etabliert werden.

Zum Weiterlesen: Unsere Themenseite bietet den Überblick über alle Fachbeiträge der edition „Zukunft für den ländlichen Raum“