Leidenschaftlich und mit großer Expertise: Claudia Kemfert setzt sich für einen stark beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien ein. Es ist ein Kraftakt, sagt die Wissenschaftlerin – aber es wird sich lohnen.
Als Antwort auf die Sanktionen droht Russland mit einer Öl- und Gas-Pause. Wie können sich Kommunen darauf vorbereiten, dass möglicherweise der Gashahn zugedreht wird?
Claudia Kemfert: Wir müssen so schnell wie möglich wegkommen von Gas und Öl. Kommunen müssen vor allem ihre Nahwärmenetze auf Alternativen umstellen und dafür sofort die Voraussetzungen schaffen. Zudem müssen so viele Erdgasheizungen wie möglich ausgetauscht werden, Kommunen sollten Beratungen für Bürgerinnen und Bürger ermöglichen. Ebenso müssen der ÖPNV gestärkt, die Busse auf Elektromobilität umgestellt sowie Ladesäulen ausgebaut werden.
Sie fordern, über einen Einstieg in die Vollversorgung mit erneuerbaren Energien zu sprechen, statt über den Ausstieg aus Kohle- und Atomkraft zu diskutieren. Was bedeutet diese Vorgehensweise für die Kommunen?
Kemfert: Eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien ist nur möglich, wenn ihr Ausbau stark beschleunigt wird. Wir benötigen einen Booster: mindestens eine Verdreifachung des jetzigen Ausbautempos. Zudem geht es um das Energiesparen und um die Elektrifizierung von möglichst allen Bereichen. Neben der energetischen Gebäudesanierung und dem Energiesparen im Industriebereich ist auch der Einsatz von Wärmepumpen und E-Mobilität entscheidend.
Welche Rolle spielen die Kommunen in diesen Kontexten?
Kemfert: Kommunen sind Teil der Lösung, da die Energiewende dezentral vor Ort stattfindet. Wir benötigen alle erneuerbaren Energien: Solarenergie auf möglichst allen Gebäuden, den Ausbau der Windenergie, das Ausweisen von Flächen sowie die Erarbeitung und Umsetzung finanzieller Beteiligungsmodelle. Außerdem muss das Personal gestärkt und entsprechend umgeschult werden.
Vielerorts scheitert der Ausbau der erneuerbaren Energien am Widerstand der Bürger, gerade bei Windkraftanlagen. Wie kann man hier vorankommen?
Kemfert: Eine wichtige Stellschraube ist, dass bundesweit ausreichende Flächen für Windenergie bereitgestellt werden, die nicht konfliktär sind und die mit Artenschutz sowie Abstandsregeln vereinbar sind. Das wären zwei Prozent der Flächen in jedem Bundesland. Pauschale Abstandsregeln sind schädlich: Sie erhöhen die Akzeptanz nicht, sondern vermindern die Flächen zu sehr, die für Windenergie notwendig sind. Die Bundesregierung hat zahlreiche neue Vorschläge gemacht, wie Konflikte mit Drehfunkfeuer, Artenschutz sowie Anwohnerinnen und Anwohnern vermindert werden können. Dies schafft Planungs-, Verfahrens- und Genehmigungssicherheit. Die Genehmigungsverfahren müssen entschlackt und Personal aufgestockt werden.
Was ist aus Ihrer Sicht außerdem besonders wichtig?
Kemfert: Bundesweit sollten finanzielle Beteiligungsmöglichkeiten geschaffen werden, damit die Kommunen von preiswerten Strompreisen oder direkt von Einnahmen profitieren können. Studien zeigen sehr klar, dass dies die Akzeptanz stärkt.
Ökostrom muss überall zum Einsatz kommen
Sie sagen, dass Strom das neue Öl sei. Öl hat sich aber vom Heilsbringer in der Mitte des 20. Jahrhunderts zum Problemkind für uns heute entwickelt. Droht eine ähnlich negative Zukunft auch beim Strom?
Kemfert: Nicht, wenn wir den Strom aus erneuerbaren Energien gewinnen. Er wird nicht nur wegen permanenter Kostensenkungen der Anlagen immer billiger, sondern hat nach der Installation auch so gut wie keine weiteren Kosten. Es muss keine Kohle, kein Uran und kein Gas importiert werden – das ist es ja gerade, was Energie so teuer macht. Ökostrom ist das neue Öl, wir benötigen ihn überall, und er muss überall zum Einsatz kommen. Und er ist dezentral, Solarenergie kann an vielen Stellen installiert werden und liefert Strom. Um mögliche Knappheiten bei Rohstoffen wie zum Beispiel seltenen Erden zu vermindern, sollte von Anfang an eine komplette Kreislaufwirtschaft eingeführt werden, in der alle Anlagen, Batterien und Module zu 100 Prozent recycelt werden. Darüber hinaus bringt die Forschung immer neue technologische Lösungen hervor, die uns unabhängiger von Rohstoffimporten machen.
Bis 2038 sollte Deutschland Ihren Berechnungen zufolge treibhausgasneutral sein. Halten Sie das für realistisch?
Kemfert: Deutschland kann es schaffen, wenn das Land das vorantreibt. Wer will, findet Wege, wer nicht will, findet Gründe. Wir müssen uns jetzt so schnell wie möglich unabhängig machen von fossilen Energien. Das stärkt unsere Resilienz, unseren Wohlstand, den Frieden und unsere Freiheit.
Interview: Denise Fiedler
Zur Person: Claudia Kemfert, 1968 in Delmenhorst geboren, ist Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Zudem ist sie als Professorin für Energiewirtschaft und Energiepolitik an der Leuphana Universität Lüneburg tätig.