3D-Modelle von Quartieren und ganzen Städten helfen dabei, die Auswirkungen von Veränderungen zu simulieren und zu analysieren, bevor die Maßnahmen in die Realität umgesetzt werden.
Der Begriff des „digitalen Zwillings“ wurde ursprünglich in der Industrie 4.0 entwickelt und fand zuerst in Bereichen wie Maschinenbau oder Automobiltechnik Verwendung. Damit wurde das digitale Gegenstück zu einem realen Objekt beschrieben, etwa einer Turbine, welches dieses über dessen gesamten Lebenszyklus abbildet.
In jüngerer Vergangenheit wurde dieses Konzept als „digitaler urbaner Zwilling“ auch auf einzelne Quartiere oder ganze Städte übertragen. Sie beinhalten nicht nur verschiedene 3D-Modelle (z. B. 3D-Stadtmodelle oder BIM-Modelle), sondern schließen vielfach auch Echtzeitdaten (z. B. von Sensoren) und Analysewerkzeuge (z. B. zur Energiebedarfs-berechnung) ein.
„Was wäre Wenn“-Szenarien
Die umfassende Dokumentation realer städtischer Objekte wie Gebäude, Bäume oder Stromleitungen als Teile des digitalen urbanen Zwillings ermöglicht eine Bestands-aufnahme des Ist-Zustands der Stadt. Durch Planung und Entwurf von Gebäuden, Quartieren oder Städten mit Hilfe digitaler Objekte können Kosten sowie Material- und Energiebedarfe abgeschätzt werden. Ein hoher Nutzen entsteht zudem durch die kontinuierliche Verwendung des digitalen urbanen Zwillings über sämtliche Phasen des Lebenszyklus von Stadtobjekten.
Weiterhin erlaubt eine Kopie des digitalen urbanen Zwillings (gewissermaßen ein digitaler Drilling) Analysen und Simulationen als „Was wäre wenn“-Szenarien“ durchzuführen. Die Auswirkung von Veränderungen, etwa ein Radweg anstelle einer Fahrspur und der daraus resultierende veränderte Verkehrsfluss, kann so virtuell erprobt und bewertet werden, bevor diese in die Realität umgesetzt werden.
Datenintegrationsprozesse definieren
Neben der Erzeugung stellt vor allem auch die fortlaufende Aktualisierung digitaler Modelle der Umwelt eine Herausforderung dar. Die vielfältigen Daten des digitalen urbanen Zwillings liegen in der Regel in verschiedenen Händen und bilden so ein System aus verteilten Bestandteilen. Daher müssen Datenintegrationsprozesse definiert werden, welche in der Lage sind, diese Probleme zu lösen.
Dabei kommt dem semantischen 3D-Stadtmodell als verbindendes Element eine Schlüsselrolle zu. Neben geometrisch genauen und georeferenzierten Daten beinhaltet dieses umfangreiche semantische und topologische Informationen und ist zudem für Visualisierungszwecke geeignet.
Ankerpunkt für vielfältige Informationen zur Stadt
Thematisch kann das 3D-Stadtmodell sämtliche Objekte der Stadt wie Gebäude, den Straßenraum oder Vegetation umfassen. Die Stadt wird dabei hierarchisch in kleinere Bestandteile zerlegt, welche ihrerseits weiter untergliedert werden können. Ein einfaches Beispiel ist ein Stadtmodell, welches Gebäudemodelle beinhaltet, die wiederum aus Teilflächen wie Dach-, Wand- und Grundflächen aufgebaut sind.
Jedes dieser Einzelobjekte ist eindeutig benenn- und auswählbar und kann so als Ankerpunkt für die Verbindung weiterer urbaner Informationen zum virtuellen Stadtmodell dienen.
Zur Modellierung, Speicherung und Verwaltung semantischer 3D-Stadtmodelle hat sich der internationale Standard CityGML etabliert, der vom Open Geospatial Consortium herausgegeben wird. CityGML wird von vielen Städten weltweit für die Verwaltung von 3D-Stadtmodellen eingesetzt. CityGML erlaubt die Modellierung städtischer Objekte mit deren 3D-Geometrie und 3D-Topologie, Semantik und Erscheinung in vier verschiedenen Detaillierungsgraden.
Sensoren mit 3D-Stadtmodellen verknüpfen
Die im Juni 2021 verabschiedete neue Version 3.0 des Standards verbessert die Nutzbar-keit von CityGML für Anwendungsbereiche wie Energie- und Umweltsimulationen, Stadt-planung, Verkehrsanalysen, autonomes Fahren und Smart Cities maßgeblich. CityGML 3.0 ermöglicht die Darstellung mehrerer Versionen eines Stadtobjekts
(z. B. historische Versionen oder alternative Planungsentwürfe) innerhalb eines Stadtmodells.
Zudem können hochdynamische Informationen in Bezug auf Stadtobjekte (z. B. Sonnen-einstrahlung im Tagesverlauf) repräsentiert und Sensoren mit 3D-Stadtmodellen verknüpft werden. Die Verkehrsinfrastruktur kann nun detaillierter modelliert werden und die Geo-metrie von Stadtobjekten durch Punktwolken repräsentiert werden.
Solare Einstrahlung auf Münchner Gebäude wird simuliert
Das Beispiel einer Solarpotenzialanalyse mit Vegetationsmodell zeigt den Nutzen von 3D-Stadtmodellen. Im Rahmen des vom Runder Tisch GIS e.V. und dem Landesamt für Digitalisierung, Breitband und Vermessung Bayern initiierten Projekts „Nutzung von Geomassendaten“ wurde durch das Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung für das gesamte Münchner Stadtgebiet ein detailliertes Vegetationsmodell erstellt und anschließend von der TUM die solare Einstrahlung in 3D auf Fassaden und Dächern simuliert. Diese Abbildung zeigt das Ergebnis der Simulation sowie den Einfluss der Vegetation auf Einstrahlungswerte der Gebäudeflächen:
Digitale 3D-Modelle existieren auf verschiedenen Skalen und für unterschiedliche Einsatz-bereiche. Während zur Planung einzelner Bauwerke IFC-basierte BIM-Modelle zum Einsatz kommen, werden existierende topografische Objekte auf Stadt(quartier)ebene mittels CityGML-Modellen dargestellt. Zahlreiche Anwendungen erfordern eine Integration dieser Modelle.
Ein Beispiel ist die Analyse der Auswirkung geplanter unterirdischer Bauwerke auf die Grundwasserströmung und deren mögliche Folgen auf umliegende, existierende Objekte mittels Grundwassersimulation. Hierfür ist ein konsistentes 3D-Modell bestehend aus geplanten Bauwerken, existierenden ober- und unterirdischen Objekten, geologischen und hydrogeologischen Daten sowie den Ergebnissen der Grundwassersimulation erforderlich.
Die Autoren: Christof Beil und Dr. Tatjana Kutzner arbeiten im Team von Prof. Dr. Thomas H. Kolbe am Lehrstuhl für Geoinformatik der Technischen Universität München.