Bei der Konzeption von Regenwasserbehandlungsanlagen reichen die aktuellen Regelwerke für die Bemessung nicht aus, um die realen Verhältnisse in den Kanalnetzen und den Bauwerken widerzuspiegeln. Erforderlich sind hydrodynamische Modellrechnungen, die eine breitere Datenbasis berücksichtigen.
Die Europäische Wasserrahmenrichtlinie fordert bis zum Jahr 2015 einen „guten Zustand“ von Flüssen, Seen, Küstengewässern und des Grundwassers. Das impliziert, dass die Gewässer weitgehend von Schmutzfrachten freizuhalten sind. Dementsprechend fordert das Wasserhaushaltsgesetz (WHG), Niederschlagswasser ohne Vermischung mit Schmutzwasser zu beseitigen.
Dies hat weitreichende Folgen für die Regenwasserbewirtschaftung, die aus historischen Gründen vielerorts über Mischsysteme erfolgt. Vorhandene Regenwasserbehandlungsanlagen müssen nachgerüstet, neue Anlagen entsprechend der Niederschlagsverhältnisse dimensioniert werden. Die dabei auftretenden Schmutzfrachten sollten realitätsnah nachgewiesen werden. Für die Ertüchtigung der Systeme nach den realen Verhältnissen bietet das technische Regelwerk für Regenabflüsse in Mischwassersystemen jedoch nur unzureichende Orientierung.
Grundlage für die Bemessung von Regenwasserbehandlungsanlagen in Mischsystemen ist das Arbeitsblatt 128 der Deutschen Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall (DWA A 128) aus dem Jahr 1992. Das erforderliche Beckenvolumen wird nach dem Regelwerk mithilfe von Vergleichsberechnungen im Nachweisverfahren bestimmt. Die tatsächlichen, ereignisbezogenen Schmutzfrachtverhältnisse mit Akkumulations- und Ablagerungsvorgängen im Kanalnetz und Sedimentationsprozessen im Becken werden dabei nicht erfasst.
Gegebenheiten vor Ort
Hinzu kommt, dass diesem Arbeitsblatt für Schmutzfrachtberechnungen eine – unrealistische – vollständige Durchmischung zugrunde liegt. Ein weiteres Manko ist die im Regelwerk vorgesehene Schmutzkonzentration des Regenwassers. Diese beruht auf mittleren Niederschlags- und Verschmutzungsverhältnissen im Kanalnetz. Die realen örtlichen Verhältnisse bleiben bei diesen pauschalen Vorgaben unberücksichtigt.
Problematisch sind auch die für die Berechnung von Abflussganglinien weithin eingesetzten hydrologischen Modelle. Diese können die tatsächlichen Verhältnisse nur grob angenähert darstellen und sind mit vielen Unsicherheiten behaftet. Bei Schmutzfrachtberechnungen im Nachweisverfahren nach DWA A 128 ermitteln hydrologische Verfahren gegenüber hydrodynamischen ein deutlich höheres Beckenvolumen – zum Nachteil für die Kommunen und Zweckverbände.
Umgang mit Regenwasser
In einer Reihe von Vorträgen und Diskussionsrunden informieren die 14. Regenwassertage des wasserwirtschaftlichen Fachverbands DWA am 1. und 2. Juli in Hamburg über aktuelle Fragen zum Umgang mit Niederschlagswasser. Auf dem Programm stehen Spezialthemen wie Versickerungsanlagen, Überflutungsvorsorge, Rigolensysteme, dezentrale Regenwasserbehandlung, Gewässerökologie und Regelwerke. Kommunale Praktiker berichten über Maßnahmen und Erfahrungen vor Ort. Eine Fachausstellung begleitet die Veranstaltung. – Informationen und Anmeldung unter www.dwa.de/veranstaltungen
Das in den 1970er-Jahren von Gert Nußbaum entwickelte Schmutzganglinienverfahren (SGL) ist bereits ein erster Ansatz gewesen, die ortsspezifischen Gegebenheiten in die Berechnung mit einzubeziehen. Das rechnergestützte Verfahren verfolgt die Flut- und Schmutzwellen einzelner Regenereignisse. Dabei werden die örtlichen Niederschlagsspektren und die örtlichen Kanalnetzverhältnisse berücksichtigt. Mit dem dezentral ausgerichteten Verfahren können die Kanaldimensionen auf ein Minimum reduziert, das Gesamtbeckenvolumen gesenkt und die Anzahl großer Becken deutlich minimiert werden.
Das Verfahren erhielt 1976 vom Land Baden-Württemberg eine Einzelzulassung. Auf der Basis des Verfahrens hat die Stadt Esslingen ihr Entwässerungssystem in den 1980er-Jahren optimiert – und dabei über 20 Millionen Mark gegenüber der ursprünglichen Konzeption gespart. Trotz der sehr guten Erfahrungen mit der Modellierungsmethode wurde die ministerielle Erlaubnis im Jahr 2002 aufgehoben. Im Hinblick auf die vom WHG geforderte modifizierte Entwässerungsstrategie ist dem SGL-Verfahren eine Renaissance zu wünschen.
Die derzeit geltenden Bemessungsregeln rechnen mit synthetischen Regenreihen mit fünfminütigen Intervallen und gehen von einer Volldurchmischung des Regenwassers aus. Der real bei Regen zu beobachtende Schmutzstoß bleibt ebenso unberücksichtigt wie die Absetzwirkung im Klärbecken und im Kanalnetz. Die Abschätzung der Sedimentationswirkung von Schmutzfrachten ist aber für eine Berechnung der realen Zustände und die Dimensionierung von Bauwerken zur Regenwasserbehandlung unerlässlich. Weiterhin nicht einbezogen sind aussagekräftige Informationen verteilt über das gesamte Einzugsgebiet.
Geringere Investitionen
Verbandsübergreifend wird derzeit an einer Überarbeitung des Regelwerks für die Bemessung von Niederschlagsabflüssen gearbeitet. So soll das Arbeitsblatt DWA 102 „Anforderungen an niederschlagsbedingte Siedlungsabflüsse“ die emissionsbedingten Regelungen aus bekannten Regelwerken der DWA und des Bunds der Ingenieure für Wasserwirtschaft, Abfallwirtschaft und Kulturbau (BWK) fortschreiben. Danach werden bei der Überprüfung oder Neuformulierung der Nachweisgrößen und Grenzwerte neue Stoffparameter für die Oberflächenverschmutzung einbezogen, der biologische Nachweis wird überarbeitet.
Eine den tatsächlichen Verhältnissen entsprechende Berechnung des Niederschlagsabflusses über hydrodynamische Modellrechnungen und eine differenzierte Betrachtung der Schmutzfrachten reduziert in der Regel die Summe notwendiger Investitionen erheblich und entlastet die kommunalen Kassen. Dazu müssen die Regelwerke heutigen Erkenntnissen angepasst und die Modelle überprüft und entsprechend modifiziert werden.
Thomas Brendt / Andreas Nußbaum
Die Autoren
Thomas Brendt und Andreas Nußbaum sind Mitglieder des Vorstands der Ingenieurgesellschaft BIT Ingenieure mit Sitz in Karlsruhe