Norbert Portz: „Mehr Autonomie in sensiblen Bereichen“

Die Corona-Krise fordert von den Kommunen schnelle Entscheidungen. Was die Dringlichkeitsvergabe für die Beschaffung bedeutet, erläutert Norbert Portz, Beigeordneter des Deutschen Städte- und Gemeindebunds. Außerdem bewertet er kommunale Einkaufsgemeinschaften und E-Vergabeplattformen.

Herr Portz, damit die Kommunen in der Corona-Krise bei der Beschaffung von medizinischem Gerät schnell vorankommen, gelten die Regelungen der Dringlichkeitsvergabe. Was bedeutet das für die Vergabeämter?

Portz: Die Corona-bedingte äußerste Dringlichkeit erlaubt Kommunen, bei EU-Vergaben (ab 214 000 Euro) für medizinisches Gerät, aber auch für IT-Geräte zum Homeoffice, Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb anzuwenden. Die Dringlichkeit lässt Direktansprachen nur eines Unternehmens und Angebotsfristen bis 0 Tagen zu. Faktisch ist das eine Direktvergabe. Für nationale Corona-bedingte Vergaben haben die Bundesländer befristet eigene Regeln und hohe Wertgrenzen eingeführt. So erlaubt Rheinland-Pfalz den Kommunen bis zur EU-Schwellenwertgrenze die Durchführung schnell umsetzbarer Direktaufträge für Liefer-, Dienst- und Bauleistungen, die „unmittelbar oder mittelbar zur Eindämmung der Pandemie beitragen“.

Sind mit der Dringlichkeitsvergabe auch beschleunigte Qualitätsprüfungen verbunden?

Portz: Qualitäts- und Eignungsprüfungen sind auf Basis der von Auftraggebern gesetzten Kriterien auch bei Dringlichkeitsvergaben unabdingbar. Denn ein städtisches Krankenhaus darf nur Atemschutzmasken für Ärzte und Pflegepersonal beschaffen, die bei Operationen auch tatsächlich schützen. Beschleunigte Qualitätsprüfungen lassen sich durch Vorgabe eines konkreten Standards (Beispiel: FFP-3-Atemschutzmaske) in der Leistungsbeschreibung gewährleisten. Die durch Zertifizierungen und Gütezeichen belegbaren Standards machen Auftraggebern schnelle Qualitätsprüfungen leichter. Jeder Lieferant, der den verlangten Standard nicht erfüllt, hat auch keine Chance auf den Zuschlag und damit auf den Auftrag.

Was lehrt die Corona-Pandemie im Blick auf die Versorgung mit Produkten und Dienstleistungen der kritischen Infrastrukturen?

Portz: Die Pandemie hat über die bisher gesehenen kritischen Infrastrukturleistungen, etwa der Sicherung der Energieversorgung, der Feuerwehr und der Rettungsdienste, den Fokus auf weltweite Gesundheitsgefahren für Leib und Leben und die Negativfolgen für die Wirtschaft gelegt. Künftig wird Sicherheit stärker als Gesundheitssicherheit buchstabiert. Diese wird zentraler Bestandteil unseres Privatalltags, aber auch der Maßnahmen von Bund, Ländern und Kommunen. Mehr Geld für genügend Krankenhäuser und das Vorhalten von Medizingeräten sind ebenso nötig wie genügend und gut bezahltes Pflegepersonal. Auch mehr Kontrollen zur Vorsorge, etwa auf Fieber bei Einreisen über Flughäfen, sind künftig denkbar.

Sollte der Standort Deutschland gestärkt werden?

Portz: In der Corona-Krise sind die handelnden Akteure meist die Nationalstaaten und in Deutschland oft die Länder und nicht die EU und internationale Organisationen. Hinzu kommt, dass die Globalisierung Mitursache dafür war, dass etwa die Lieferung von Atemschutzmasken in der Krise oft zu lange brauchte. In sensiblen Bereichen, wie in der Gesundheitsvorsorge, machen daher eine stärkere Autarkie und damit eine Wertschöpfung und ein Vorhalten von Produkten in Deutschland und Europa Sinn. Das dient auch der Nachhaltigkeit. Dennoch wird die Globalisierung, von der ja auch deutsche Unternehmen profitieren, nicht durch eine völlige Umkehr und Regionalisierung von Wertschöpfungsketten ersetzt werden.

Die nachhaltige Beschaffung zu fördern, ist eine politische Willenserklärung. Das bedeutet auch, die Lebenszykluskosten eines Produkts zu betrachten. Findet dieses Kriterium angemessene Berücksichtigung im üblichen kommunalen Vergabeprozess?

Portz: Nachhaltige Beschaffungen gewinnen bei Kommunen immer mehr an Bedeutung. Sie können im Vergabeprozess in den fünf Stufen „Markterkundung, Leistungsbeschreibung, Eignungskriterien, Wertung der Zuschlagskriterien einschließlich Lebenszykluskosten und Auftragsausführung“ Berücksichtigung finden. Während die Stufe der Leistungsbeschreibung, etwa bei der Vorgabe zum Bau eines Kindergartens aus nachwachsenden Rohstoffen (Holz), einfach handhabbar ist, ist die Wertung von Lebenszykluskosten, die ja die Anschaffung, Nutzung, Wartung und Entsorgung der Leistung mit umfasst, schwieriger. Hier können aber objektiv-transparente Gütezeichen helfen, Lebenszykluskosten stärker zu berücksichtigen.

Welche Möglichkeiten haben Städte und Gemeinden, im regionalen Rahmen die Entwicklung einer nachhaltigen Wirtschaft zu fördern?

Portz: Städte und Gemeinden können durch gezielte Vergaben regional-nachhaltige Entwicklungen fördern. Beispiele sind Vorgaben in der Leistungsbeschreibung, wonach Lebensmittel für kommunale Ganztagsschulen aus der Region stammen sollen. Dies lässt sich übertragen auf Natursteine für einen Marktplatz, die aus einem regionalen Abbau und nicht aus indischen Steinbrüchen mit ausbeuterischer Kinderarbeit stammen dürfen. Auch die Wertung des Schadstoffausstoßes (z. B. CO2) bei der Anlieferung der ausgeschriebenen Produkte stärkt die Nachhaltigkeit. Schließlich fördern mittelstandsgerechte Vergaben, bei denen sich auch vermehrt örtliche Betriebe beteiligen können, nachhaltig-regionale Beschaffungen.

Wie bewerten Sie kommunale Einkaufsgemeinschaften?

Portz: Kommunale Einkaufsgemeinschaften sind mehrfach von Vorteil: Sie tragen bei Beschaffungen dazu bei, den oft erfolgten Personalabbau in den Kommunen abzumildern. Auch wird die Fachkompetenz für Vergabeverfahren konzentriert. Hinzu kommt, dass die Beauftragung einer zentralen Beschaffungsstelle selbst nicht ausgeschrieben werden muss (§ 120 Abs. 4 S. 3 GWB). Kommunale Einkaufsgemeinschaften sind oft „Töchter“ kommunaler Spitzenverbände. Bei Einkaufsgemeinschaften muss nicht jede einzelne Kommune ihr Feuerwehrfahrzeug, ihren Bürobedarf oder ihre Stromlieferung separat ausschreiben. Das übernimmt die Einkaufsgemeinschaft für alle Kommunen gemeinsam. Dies macht Sinn und sollte ausgeweitet werden.

Und was können Beschaffungsplattformen spezialisierter Dienstleister bieten, was die Kommunen nicht auch selbst könnten?

Portz: Kommunale Beschaffungen müssen vergaberechtlich durch digitale Kommunikation erfolgen. Dies wird sich nach der Corona-Krise noch verstärken. Ihre Vergaben stellen Kommunen daher in elektronische Beschaffungsplattformen ein, die oft von den Bundesländern betrieben werden. Die digitalen Marktplätze bilden dann den gesamten Vergabeprozess ab. Die Unternehmen können sich konzentriert über die sie interessierenden kommunalen Vergaben einen Überblick verschaffen. Für Kommunen haben digitale Beschaffungsplattformen ebenfalls Vorteile: Die Kosten werden reduziert, eine umfassende Transparenz und Prozesssicherheit wird gewährleistet, und es werden die vergaberechtlichen Vorgaben eingehalten.

Interview: Jörg Benzing

Zur Person: Norbert Portz (Jg. 1955), Bonn, ist Beigeordneter des Deutschen Städte- und Gemeindebunds mit den Aufgabenschwerpunkten Gemeinde- und Stadtentwicklung, Raumordnung, Wohnungswesen, Entsorgung und Vergaberecht