Mobilitätswende im öffentlichen Raum

Fußgänger- und Radfahrerbrücke: Kopenhagen ist eine der Städte, von denen man sich für die Verkehrstransformation inspirieren lassen kann. Foto: Adobe Stock/Sergiy Bykhunenko Foto: Adobe Stock/Sergiy Bykhunenko

Die Studienlage erscheint unübersichtlich − aus Sicht der Wissenschaft ist dennoch klar, wohin die Reise gehen sollte, sagt Mobilitätsforscher Claus Doll. Er ordnet die Möglichkeiten für (kleine) Kommunen ein, die sich auf den Weg machen und die Mobilitätswende gestalten wollen.

Die mediale Berichterstattung vermittelt den Eindruck, dass es für jedes Mobilitätskonzept eine passende Studie gibt. Trügt der Eindruck?

Claus Doll: Nein, das ist tatsächlich so – allein die beiden Studien des Umweltbun- desamts von 2020 und 2022 zu Tempolimits scheinen einander zu widersprechen. Man muss aber sehr genau hinschauen: Worum geht es hier? In der einen UBA-Studie geht es ausschließlich um Autobahnen, in der anderen auch um Landstraßen – und dmit ändert sich vieles. Oder die FDP-Studie, die gerade oft in den Medien zitiert wird: Hier wird angenommen, dass sich Autofahrer nicht an neue Tempolimits halten werden, auch das spielt eine Rolle für die Ergebnisse. Die Resultate von Studien hängen von zahlreichen Faktoren ab: von den Fragestellungen, von den Rahmenbedingungen, den Auftraggebern und vielem mehr.

In den Kommunen müssen aber natürlich Entscheidungen getroffen werden. Auf welcher Basis ist das dann möglich?

Doll: Überblicks- oder Metastudien sind hilfreich: Forschende analysieren darin nicht nur eine Studie, sondern werten dutzende aus. Das ist sehr aufwendig, lohnt sich aber unbedingt. Es gibt sie zu vielen Themen – wir haben kein Wissens-, sondern ein Umsetzungsproblem.

Was heißt das: Was sollten Städte und Gemeinden tun?

Doll: Sehr wichtig: Der öffentliche Raum in Innenstädten sollte weniger durch das Auto dominiert sein. Parkplatzrückbau ist angeraten, der ÖPNV sollte gestärkt und subventioniert, ÖPNV-Kapazitäten sollten erhöht werden. Auf freiwerdenden Parkflächen können Geschäfte Platz finden und Freizeitangebote geschaffen werden. Der Radverkehr muss gestärkt werden: durchgehend befahrbare Netze mit Anschluss an ÖPNV-Knoten.

Wenn aus Sicht der Forschenden alles so klar ist – warum gibt es dann die Umsetzungsprobleme?

Doll: Das hat vielfältige Gründe. Eine zentrale Rolle spielen persönliche Faktoren: Mobilität ist ein wichtiger Teil der Alltagsgestaltung. Wir haben es hier mit unterschiedlichen Zwängen, Lebensstilen und Werten zu tun – die einen müssen morgens sehr früh in der Klinik oder im Betrieb sein und sehen keine Möglichkeit, mit dem Bus zu fahren; die anderen leben mitten in der Stadt, arbeiten im Homeoffice und lehnen den Pkw-Verkehr ab. Ein wichtiger Aspekt ist, dass das Mobilitätsverhalten stark habitualisiert ist: Viele wollen in ihren gewohnten Mustern bleiben. Dazu kommt Risikoaversität − Veränderungen werden in Deutschland grundsätzlich negativ bewertet. Und die Wissenslage ist eben komplex: Die Studien scheinen einander zu widersprechen – und viele Bürger und Politiker wollen einfache Antworten.

Die Mobilitätswende fordert nicht nur ein Umdenken und ein anderes (Mobilitäts-) Verhalten, sondern auch einen tiefgehenden Umbau des urbanen Raums. Ist das überhaupt machbar?

Doll: Zumindest ist etwas ähnlich Gravierendes bereits geschehen. Denken Sie zurück an die 1920er Jahre: Damals galt das Automobil als Antwort auf den Pferdedreck, der den urbanen Raum stark belastete. Innerhalb kurzer Zeit wurden Stadtplanung und rechtliche Rahmenbedingungen verändert, und es wurden Straßen für das neue Verkehrsmittel gebaut. Die Frage ist doch: Warum sollten jetzt ähnlich gravierende Transformationen nicht möglich sein?

Die Frage ist aber auch: Wie kann das gehen?

Doll: Erst einmal gibt es bereits viele gute Beispiele, von denen man lernen und sich inspirieren lassen kann. Zum Beispiel die Superblocks in Barcelona: verkehrsberuhigte Stadtquartiere. Straßenumgestaltungen in Paris oder Wien. Fahrradstraßen und Radschnellwege in den Niederlanden oder in Kopenhagen. City-Maut in Bergen und Trondheim, in Stockholm oder Mailand. Das Park & Ride Konzept in Straßburg.

Ist das, was in Amsterdam oder Straßburg funktioniert, auf andere Städte übertragbar?

Doll: Natürlich ist jede Stadt anders – es gibt aber auch so viele Gemeinsamkeiten, dass man jede Menge von anderen lernen kann.

Was hilft bei der Umsetzung?

Doll: Wichtig ist ein Mobilitätsmanager – jemand in der Verwaltung, der sich speziell mit der Mobilitätswende befasst und möglichst auch Entscheidungskompetenzen hat. In den großen Städten geschieht hier bereits sehr viel, die sind auch in Netzwerken aktiv, zum Beispiel POLIS, CIVITAS, EUROCITIES oder ICLEI. Kleine Kommunen haben allein deshalb Probleme, weil sie den Aufwand, der mit der Mobilitätswende verbunden ist, personell nicht stemmen können. Aber sie können sich mit Nachbargemeinden und Landkreisen zusammentun, und sie sollten unbedingt auch bei überregionalen Netzwerken dabei sein.

Wie bringt man dann neue Ideen zu den Bürgerinnen und Bürgern – also zu denen, die von der Mobilitätswende profitieren sollen, ihr aber skeptisch entgegenstehen, sobald ihr Mobilitätsverhalten in Frage gestellt wird?

Doll: Losgehen sollte es mit einem Strategieprozess: Wo wollen wir hin? Also Dialogprozesse mit Unternehmen und Bürgern. Das ist sehr wichtig in der Frühphase, in der noch echte Entscheidungen getroffen werden können. Sobald etwa klar ist, sollte es umgesetzt werden – in dem Wissen darum, dass der Transformationsprozess schmerzhaft ist, dass neue und bessere Lösungen aber voraussichtlich gut angenommen werden. Sehr wichtig: ein konsistentes Zusammenspiel aus Push- und Pullmaßnahmen, etwa nicht nur Parkraum wegnehmen, sondern deutlich sichtbar Positives schaffen. Nicht nur die Stadt für Autos sperren, sondern auch das Parkticket am Stadtrand als ÖPNV-Ticket nutzen lassen. Ebenso: Konzepte erlebbar machen, etwa Exkursionen mit Gemeinderat, Unternehmen und Bürgern in interessante Städte.

Helfen soll hier auch das Simulationsspiel „Mobile City Game“, an dem Sie mit Ihren Kolleginnen und Kollegen am Fraunhofer ISI arbeiten. Was wird es leisten?

Doll: Es soll komplexe verkehrsplanerische Zusammenhänge sowie Entscheidungsoptionen veranschaulichen und leicht zugänglich machen − und zwar zunächst am Beispiel der Stadt Karlsruhe. Unter anderem geht es darum: Was tragen welche Maßnahmen über die Zeit zur Treibhausgasemission bei? Was kosten sie? Welche Wirkungen auf Stadtentwicklung und Lebensqualität sind zu erwarten? Ab August wird das Spiel verfügbar sein.

Interview: Sabine Schmidt


Zur Person

Dr. Claus Doll ist seit 2005 am Competence Center Nachhaltigkeit und Infrastruktursysteme des Fraunhofer Instituts für System- und Innovationsforschung (ISI) in Karlsruhe tätig. Dort begründete er das Geschäftsfeld Mobilität mit. Seit 2015 leitet er die Arbeitsgruppe People Mobility der Fraunhofer Allianz Verkehr.