Zu wenig Klimaschutz verletzt Menschenrechte

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gab den Schweizer Klima-Seniorinnen Recht: Zu wenig Klimaschutz verletzt ihre Menschenrechte. Was bedeutet dieses Urteil für die deutsche Bundesregierung und für deutsche Kommunen? Antworten von Greenpeace-Expertin Gianna Martini.

Menschenrecht Klimaschutz
Erfolg nach einem langen Weg durch Schweizer Instanzen: Nach dem Straßburger Urteilsspruch waren die KlimaSeniorinnen von der Presse umlagert. Fotos: Greenpeace

Es war ein ungewöhnliches Bild in unserer Medienlandschaft: Ältere Frauen mit Sektgläsern in der Hand, die international Aufmerksamkeit bekommen. Das war alles andere als ein Selbstläufer: Bevor die Schweizer KlimaSeniorinnen ihren Erfolg vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg feiern konnten, mussten sie viel auf die Beine stellen. Wie lange waren sie dafür unterwegs?

Gianna Martini: Insgesamt hat es rund zehn Jahre gedauert. Es begann mit einigen Schweizer Frauen, unter ihnen eine Juristin, die gemeinsam mit Greenpeace Schweiz überlegt haben, was möglich ist, damit der Staat mehr für den Klimaschutz tut — damit er dem entspricht, wozu er sich verpflichtet hat. Den Verein KlimaSeniorinnen Schweiz haben sie dann im August 2016 gegründet.

Entschieden haben sie sich für einen sehr ausgeklügelten juristischen Ansatz.

Martini: Genau: Sie haben als ältere Frauen geklagt, die sich in ihrer Gesundheit und in ihrer Lebensqualität durch den Klimawandel, insbesondere durch die Hitzeperioden im Sommer stark beeinträchtigt fühlen. Genau dazu gibt es mittlerweile gesicherte Erkenntnisse: Nicht nur, aber insbesondere ältere Frauen sind von den erhöhten Temperaturen zum Teil massiv betroffen.

Diesen Ansatz haben sie sehr geduldig verfolgt. Welche Rolle hat Greenpeace auf dem langen Weg gespielt?

Martini: Greenpeace hat den Verein von Anfang an unterstützt: mit Öffentlichkeits- und Pressearbeit, mit Finanzmitteln, etwa für eine Sekretariatsstelle, und bei den juristischen Fragen. Greenpeace hat auch die Gerichtskosten übernommen. Die Klage in Straßburg war ja nicht die erste, sondern die bis jetzt letzte Klage: Bevor es nach Straßburg gehen konnte, mussten erst die entsprechenden Instanzen in der Schweiz durchlaufen werden.

Waren Sie von Anfang an auf diesem Weg dabei?

Martini: Ich persönlich nicht, ich habe die KlimaSeniorinnen seit Anfang 2023 unterstützt, unter anderem bei den Anhörungen in Straßburg. In diesem Fall war ich also vor allem beim krönenden Abschluss dabei, als die Lorbeeren eingesammelt wurden. Mit meinem Team war ich aber bereits bei einem anderen wichtigen Prozess dabei: als im Frühling 2021 das deutsche Bundesverfassungsgericht entschied, dass das Klimaschutzgesetz überarbeitet werden muss.

Inwiefern gehören diese beiden Prozesse für Sie zusammen?

Martini: Letztlich gehören alle Klimaprozesse zusammen. Bei diesen beiden — bei der Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Frühjahr 2024 und bei der Klage vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht vor drei Jahren — zeigt sich aber deutlich, wie viel sich im Lauf der vergangenen Jahrzehnte verändert hat. Heute setzen Gerichte durchaus neue Schwerpunkte und neue Akzente, und das Straßburger Ureilt bedeutet: Klimaschutz ist ein Menschenrecht — das ist ein enorm wichtiger Schritt.

Die Zahl der Klimaklagen nimmt zu, aber längst nicht alle werden vor Gericht zugelassen, und längst nicht alle gehen im Sinn derjenigen aus, die sich für mehr Klimaschutz einsetzen. Der juristische Weg ist mühsam, kompliziert und — wie man bei den KlimaSeniorinnen sieht — langwierig. Warum macht dieser Weg für Sie dennoch Sinn?

Martini: Straßburg zeigt, dass es sich lohnt, sich zu engagieren. Dieses Urteil hat sehr viel internationale Aufmerksamkeit erhalten, und ganz sicher verändert es das öffentliche Bewusstsein. Es kommt immer mehr in Bewegung, je sicht- und spürbarer der Klimawandel mit seinen gravierenden Folgen wird: Das spiegelt sich in Gerichtsurteilen, die dann wiederum das öffentliche Bewusstsein beeinflussen.
Das Straßburger Urteil wird nicht nur positiv aufgenommen, vielmehr haben sich einige Schweizer Politiker empört gezeigt und sich dahingehend geäußert, dass aus dem Urteil für die Schweiz nichts folge.

Wie sehen Sie das — was folgt aus dem Urteil. Oder anders gefragt: Was sollte aus ihm folgen?

Martini: Diese abweisenden Reaktionen finde ich irritierend. Denn das Straßburger Urteil fordert nichts anderes ein als das, wozu sich die Schweiz bereits verpflichtet hat, indem sie das Pariser Klimaabkommen unterzeichnet hat. Der Schweiz wird also nichts aufgedrückt, sondern sie wird aufgefordert, das zu tun, was sie bereits zugesagt hat. Zumal jetzt ein sehr starkes Argument dazukommt: Klimaschutz ist ein Menschenrecht.

Dennoch: Folgt daraus jetzt tatsächlich etwas, oder war das wieder einmal nur viel Medientrubel?

Martini: Das alles ist wesentlich mehr als viel Lärm um nichts. Das Straßburger Urteil macht einen gravierenden Unterschied. Zum einen, weil weitere Klagen und Prozesse folgen werden, die sich auf dieses Urteil beziehen können. Zum anderen, weil mit den KlimaSeniorinnen auch die Öffentlichkeitsarbeit gewonnen hat und die Wissenschaft, die wieder und wieder zeigt, dass der Klimawandel menschengemacht ist. Entscheidend für uns bei Greenpeace ist, dass sich das öffentliche Bewusstsein ändert; dass klar ist, wie wichtig die 1,5 Grad-Grenze ist; und dass auch und gerade Richterinnen und Richter diesem Ziel eine wesentliche Bedeutung geben. Das ist es, was ich entscheidend finde: Das Straßburger Urteil hat eine enorme Strahlkraft.

Klagen und Prozesse brauchen aber sehr viel Zeit, die es beim Klimaschutz eigentlich nicht mehr gibt.

Martini: Die nächsten Klagen können sich auf das Straßburger Urteil berufen, vermutlich wird manches jetzt schneller gehen. Aber natürlich — das ist tatsächlich ein Wermutstropfen: Ein Gerichtsurteil allein sichert nicht die Einhaltung der 1,5 Grad-Grenze. Der juristische Weg ist wichtig, aber nur ein Instrument unter anderen.

Was bedeutet das Straßburger Urteil für die deutsche Bundesregierung sowie für deutsche Städte und Gemeinden?

Martini: Erst einmal nichts: Vor Gericht stand die Schweiz und nicht Deutschland. Und doch heißt es sehr viel, oder genauer: Es sollte sehr viel heißen. Klimaschutz ist ein Menschenrecht, das hat Straßburg bestätigt, es gibt also sehr wichtige Gründe, sich für die Einhaltung der 1,5 Grad-Grenze zu engagieren. Die Bundesregierung muss aus unserer Sicht sehr viel mehr tun, etwa für die Mobilitätswende. Die Zeit drängt, und Kommunen sollten nicht darauf warten, dass die Bundesregierung ihnen was auch immer vorgibt. Auf kommunaler Ebene geschieht bereits viel, was dem Klimaschutz dient. Auf diesem Weg sollte es unbedingt weitergehen — angespornt von dem Straßburger Urteil.

Interview: Sabine Schmidt

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Zur Person

Gianna Martini ist Greenpeace-Expertin für Klima und Energie. Sie hat die Schweizer KlimaSeniorinnen auf ihrem Weg nach Straßburg unterstützt.