„Mehr natürlicher Klimaschutz“

Artenschutz, Umwelt
In Zeiten des Klimawandels gilt es, umzudenken: Statt die Natur aus urbanen Räumen zu verdrängen, sollte möglichst viel Grün integriert werden. Foto: Adobe Stock/Aysel

Bodenversiegelung durch Neubauten und der Ausbau der Erneuerbaren: Beides nimmt der Natur ihren Raum. Dennoch müssen die Anliegen, die (noch) im Konflikt stehen, zusammengebracht werden, betont Deutschlands oberste Naturschützerin — und erklärt, wie das gehen kann.

Wo sehen Sie aktuell die größten Herausforderungen für Natur- und Artenschutz?

Sabine Riewenherm: Eine der größten Herausforderungen, um dem Klimawandel und Biodiversitätsverlust begegnen zu können, ist die weiterhin zu hohe Flächenneuinanspruchnahme für Siedlungs- und Verkehrsflächen. Täglich sind es rund 54 Hektar, das entspricht in etwa einer Größe von 74 Fußballfeldern und steht im Widerspruch zum 30-Hektar-Ziel der Bundesregierung bis 2030.

Wohnraum wird aber gebraucht, ebenso ist die Energiewende ein zentrales Ziel, die ebenfalls – etwa mit (Offshore-)Windenergieanlagen – Stress für Tiere und Pflanzen bedeutet.

Riewenherm: Es ist unbestritten, dass wir Wohnraum brauchen und auch den Ausbau Erneuerbare Energien. Aber um der Klima- und Biodiversitätskrise begegnen zu können, brauchen wir auch Flächen zum Beispiel für den natürlichen Klimaschutz.

Was fordern Sie?

Riewenherm: Wir brauchen Lösungen, bei denen Klimaschutz und Biodiversität zusammenwirken, zum Beispiel durch naturbasierte Lösungsansätze beim Hochwasserschutz. Auch das „Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz“ des Bundes vereint diese Ansätze und bietet zum Beispiel speziell ein Förderprogramm für kommunale Flächen im ländlichen Raum an.

In der Praxis erscheint dennoch manches widersprüchlich: Zum einen wird großflächig Flora und Fauna Raum genommen, immer mehr Arten verschwinden; zum anderen gibt es für den Bau hohe Auflagen, einzelne Tierarten oder Exemplare zu schützen, seien es der Rotmilan oder Fledermäuse. Macht das dennoch Sinn?

Riewenherm: Wenn bei Eingriffen in die Natur Flächen für Siedlungen, Verkehr oder den Ausbau von Erneuerbaren Energien benötigt werden, so müssen diese Eingriffe kompensiert werden. Und es braucht Maßnahmen, um die Eingriffe so naturverträglich wie möglich zu gestalten. Darum machen Vermeidungsmaßnahmen, wie sie zum Beispiel zum Schutz von Arten beim Ausbau der Erneuerbaren vorgesehen sind, in jedem Fall Sinn. Darum gibt es unter anderem auch das Artenhilfsprogramm, das für den Ausbau der Windenergie vom Bund auf den Weg gebracht wurde.

Wo setzen Sie weitere Akzente?

Riewenherm: Zum Beispiel mit unseren Empfehlungen zum naturverträglichen Ausbau von Photovoltaik-Anlagen. Ein weiteres Beispiel: Die „Doppelte Innenentwicklung“. Sie verfolgt das Ziel, Flächenreserven baulich sinnvoll zu nutzen, gleichzeitig aber auch die Freiraumversorgung und -nutzbarkeit zu erhalten und die innerstädtischen Freiflächen zu entwickeln, miteinander zu vernetzen und qualitativ zu verbessern. Stichwort „Animal-Aided Design“.

Was verbirgt sich dahinter?

Riewenherm: Dieses Konzept zeigt in einem interdisziplinären Ansatz von Ökologie, Zoologie, Architektur, Landschaftsarchitektur und Planung, wie konkrete Maßnahmen zum Schutz und zur Entwicklung der urbanen biologischen Vielfalt im Wohnumfeld ökologisch sinnvoll und in ästhetisch ansprechender Form gelingen können. Damit entstehen zugleich neue Kooperationen, nicht nur mit Akteuren aus der Landschaftsarchitektur und Grünplanung, sondern auch der Wohnungswirtschaft und der Architektur.

Ein weiteres Anliegen ist die Herleitung neuer Orientierungswerte und Kenngrößen für das öffentliche Grün. Worum geht es?

Riewenherm: In einer Fachkonvention wurden bundeseinheitliche Orientierungswerte für die Grünausstattung und Erholungsversorgung erarbeitet, die auch neue Herausforderungen der Städte berücksichtigen: anhaltendes Wachstum, bauliche Innenentwicklung, Anpassung an den Klimawandel, Erhalt der biologischen Vielfalt und Umweltgerechtigkeit.

Vieles ist bereits auf dem Weg: Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation – und wo sehen Sie dringenden Handlungsbedarf?

Riewenherm: Dringenden Handlungsbedarf sehe ich insbesondere bei den Themen Biodiversitätsverlust, Flächenbedarf für Naturschutz, Klimaanpassung und Meeresschutz. Was positiv zu werten ist: Immer mehr Menschen in Deutschland sind für das Thema Naturschutz sensibilisiert. So finden über 70 Prozent der Bevölkerung den Zustand der Meere bedenklich, beim Klima sind es 67 Prozent und 64 Prozent bei der Artenvielfalt. Gleichzeitig sehe ich auch, dass die Sensibilität für die Notwendigkeit von Naturschutz bei vielen weiteren Gruppen – über Landwirte, Forstwirte, Wirtschaftsakteure und auch kommunalen Entscheidern – deutlich gestiegen ist.

Woran machen Sie das fest?

Riewenhern: Das belegt das erhebliche Interesse an Förderungen unter anderem im Bundesprogramm Biologische Vielfalt sowie an den neuen und künftigen Förderungen im Aktionsprogramm natürlicher Klimaschutz, das auch Kommunen fördern und unterstützen möchte.

Die Kommunen spielen hier ja eine zentrale Rolle – wie steht sie?

Riewenherm: Fast 400 Kommunen engagieren sich im Bündnis „Kommunen für biologische Vielfalt“ – das finde ich sehr erfreulich. Diese Städte, Gemeinden und Landkreise haben das Ziel, öffentliche Grünflächen, kommunalen Wald, Ränder von Verkehrswegen und Gewässerbereiche im Sinne der biologischen Vielfalt sowie zum Schutz der Arten und Biotope nachhaltig zu pflegen und zu entwickeln. Auch Maßnahmen in Quartieren, an und auf Gebäuden unter anderem im Rahmen der naturnahen Gebäudebegrünung und der naturverträglichen, energetischen Gebäudesanierung werden mehr und mehr umgesetzt. Fortschritte sehe ich zudem beim Schutz einzelner Arten, wie zum Beispiel den gebäudebewohnenden Fledermäusen.

Was ist aus Ihrer Sicht aktuell wichtig: Was können, was sollten kommunale Akteure tun?

Riewenherm: Ich sehe hier insbesondere den Handlungsspielraum für Kommunen, der durch eine Reihe von Fördermöglichkeiten geboten wird. Es gibt im Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz Förderprogramme, die sich gezielt an Kommunen wenden. Im Bundesprogramm Biologische Vielfalt gibt es den Förderschwerpunkt „Stadtnatur“: Hier können zum Beispiel Biodiversitätsmanager gefördert werden, um Biodiversitätsstrategien aufzustellen und umzusetzen. Das wiederum bietet die Chance, mehr Bürgerinnen und Bürger in den Kommunen zu beteiligen und mitzunehmen.

Kommunale Akteure sind direkt mit Bürgerinnen und Bürgern konfrontiert, das heißt unter anderem: Die einen wollen die Energiewende, aber nicht auf Kosten von Arten- und Naturschutz; andere wollen die Energiewende, aber nicht vor ihrer Haustür; oder sie befürworten zwar Artenschutz, wollen aber dennoch mehr Fläche versiegeln. Was kann man tun: Wie kann man die unterschiedlichen Ansprüche zusammenbringen?

Riewenherm: Man muss miteinander reden. Und es braucht Akteure vor Ort, die Menschen, Land, Region gut kennen und gut vernetzt sind. Das ist jedenfalls unsere Erfahrung bei Projekten, bei denen zahlreiche Akteure überzeugt und eingebunden werden müssen wie bei den Naturschutzgroßprojekten. Informationsangebote wie Flyer, Broschüren oder Beiträge via Social Media allein reichen nicht aus. Wir brauchen gute „Kümmerer“-Strukturen.

Gibt es beim Natur- und Artenschutz Best-Practice-Beispiele, die Sie kommunalen Akteuren empfehlen mögen?

Riewenherm: Es gibt zum Glück sehr viele. Etwa die Vorhaben aus dem Bundesnaturschutzfonds wie die Naturschutzgroßprojekte. Oder aus dem Bundesprogramm Biologische Vielfalt, bei denen Menschen und auch die Nutzergruppen, etwa aus der Landwirtschaft, aktiv mit einbezogen werden. Sie sind erfolgversprechend, weil sie nachhaltig wirksam werden und bleiben. Wichtig ist hier immer das gegenseitige Verständnis für die Interessenskonflikte. Wir können Zielkonflikte nicht beseitigen, aber Verständnis für die jeweilige Rolle aufbringen und gemeinsam nach einer guten Lösung suchen.

An welche konkreten Beispiele denken Sie?

Riewenherm: Gute Beispiele auf der kommunalen Ebene sind für mich urbane Wälder, Naturerfahrungsräume und urbane Waldgärten als sogenannte multifunktionale Grünflächen. Mit diesen Freiflächentypen gelingt es, die biologische Vielfalt in den Kommunen zu erhalten und zu erhöhen. Gleichzeitig wird der Bevölkerung Erholungs- und Naturerlebnisraum geschaffen. Bei den urbanen Wäldern und urbanen Waldgärten werden über kurz oder lang auch ökonomische Effekte erzielt, durch Holz- oder Nahrungsmittelproduktion. Das alles hilft, die knappe Ressource Freiraum im Urbanen Raum effektiv zu nutzen. Oder denken Sie an Hamburg: ein sehr gutes Beispiel für ein Großschutzprojekt im urbanen Raum – eine Metropole, die sich umbaut.

Interview: Sabine Schmidt

Foto: Feisel Grombali

Zur Person

Sabine Riewenherm ist Präsidentin des Bundesamtes für Naturschutz (BfN).



Zum Weiterlesen: