„Kunst ist systemrelevant“

Auch das gehört für Olaf Zimmermann unbedingt dazu: Auftrittsmöglichkeiten und Anerkennung für junge Musikerinnen und Musiker. Foto: Adobe Stock/Gennadiy Poznyakov

Kunst und Kultur sind sehr viel mehr als schönes Beiwerk − Kulturexperte Olaf Zimmermann erklärt, warum sie nach den Lockdowns besondere Unterstützung brauchen: durch Geld ebenso wie durch Wertschätzung.

Die erste Spielsaison nach den Lockdowns liegt hinter uns, alles geht. Ist also die Kunst- und Kulturwelt wieder in Ordnung?

Olaf Zimmermann: Leider nicht, Corona ist längst nicht vorbei. Viele Zuschauer sind nicht oder noch nicht zurückgekehrt, und nach wie vor haben Soloselbstständige besonders zu kämpfen: Sie haben nicht die Zahl an Auftrittsmöglichkeiten, die sie brauchen, um wirtschaftlich dauerhaft zu überleben. Zudem gibt es eine große Unsicherheit, was im Herbst geschehen wird. Das Finanzielle ist allerdings nicht das einzige Problem – auch darüber hinaus kann man längst nicht von Normalzustand sprechen.

Warum nicht?

Zimmermann: Wesentliche Gewissheiten wurden in Frage gestellt, als über Nacht wegen Covid-19 alle Kultureinrichtungen dichtgemacht wurden. Vor der Pandemie haben wir vom Deutschen Kulturrat mit unseren Mitstreitern manchmal darüber nachgedacht, aus Protest gegen Einsparungen im Kulturbereich einfach mal zu streiken. Alles sollte geschlossen werden, Theater, Museen, Kinos, einfach alles. Aber wir haben uns dann schnell eines Besseren belehrt, weil wir das für undurchführbar gehalten haben – und dann ging es in der Pandemie auf einem Mal leider doch: Jede einzelne Kultureinrichtung war geschlossen. Kunst und Kultur wurden zudem in einem Atemzug mit Freizeitangeboten und Bordellen genannt, waren für die Politik erst mal irrelevant.

Dennoch: Es gab finanzielle Hilfen.

Zimmermann: Zum Glück gab es sie, und auch wenn die Öffnung von Hartz IV für Künstlerinnen und Künstler gefühlt schwer zu schlucken war, hat es viele Soloselbst-ständige bis heute finanziell gerettet. Auch die meisten Kulturinstitutionen haben, mit viel staatlicher Hilfe, die Lockdowns überlebt. Das sind sehr gute Nachrichten, die man nicht hoch genug schätzen kann. Die Frage ist aber, wie es weitergehen wird – eben weil das Publikum nicht oder jedenfalls noch nicht ausreichend zurückgekehrt ist. Und weil die Zahl der Auftrittsmöglichkeiten für Soloselbstständige deutlich geringer ist als vor der Pandemie.

Die Maßnahmen gegen Corona haben für jeden gravierende Einschnitte bedeutet. Inwiefern sehen Sie den Kulturbereich als besonders gebeutelt?

Zimmermann: Künstlerinnen und Künstler arbeiten sehr intensiv, mit hohem, persön-lichem Einsatz. Dann aber mussten sie die Erfahrung machen, dass ihrer Arbeit die Relevanz abgesprochen wird. Es wurde nicht anerkannt, nicht genug wertgeschätzt, wie bedeutsam Kunst und Kultur sind: Für das Individuum, für die persönliche Entwicklung. Und für eine offene Gesellschaft, für eine Demokratie, die sich immer wieder neu über die jeweils aktuellen Herausforderungen verständigen, die darüber reden und streiten muss.

Was können, was sollten Kommunen tun?

Zimmermann: Kunst und Kultur sind sehr facettenreich – nicht nur die großen Theater-, Opern- und Festivalaufführungen gehören dazu. Sehr wichtig ist es auch, soloselbst-ständigen Künstlerinnen und Künstlern aus der jeweiligen Region Auftrittsmöglichkeiten zu geben – und ihnen angemessene Honorare zu zahlen.

Woran denken Sie?

Zimmermann: Hier ist viel Spielraum für kleine und große Ideen. Man könnte einen Musiker, eine Musikerin bei einer Ratsversammlung auftreten lassen. Ein Stadtfest auf die Beine stellen. Einen zusätzlichen Rahmen für Lesungen schaffen: Die meisten Schrift-steller können nicht vom Verkauf ihrer Bücher leben, sondern brauchen das Honorar der Lesungen dringend. Ganz wichtig ist die Wertschätzung: nicht nur für die so genannte Hochkultur, sondern auch für den Gesangsverein oder die Schreibwerkstatt. Bürgermeisterinnen und Bürgermeister haben hier großen Einfluss: Je öfter, je nachdrücklicher sie die Bedeutung von Kunst und Kultur betonen, je wertschätzender sie mit Künstlerinnen und Künstlern ihrer Region umgehen, desto besser.

Um mal wieder das Brecht-Zitat zu bemühen: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ – Kultur kostet nun mal Geld, zusätzliche Veranstaltungen kosten erst recht.

Zimmermann: Zudem ist Kultur auch noch eine so genannte freiwillige Leistung der Kommunen, die allzu oft als entbehrlich interpretiert wird. Dabei haben Kommunen gerade hier Gestaltungsfreiheit: Bei vielen anderen Themen müssen sie Vorgaben erfüllen – bei der Kultur können sie dagegen Akzente freisetzen. Mit finanziellen Mitteln, aber eben auch mit Anerkennung.

Gilt es also, Politik wie Gesellschaft wieder an die Bedeutung von Kunst und Kultur zu erinnern: Braucht es im Digitalzeitalter, im Zeitalter von Streaming sowie Social Media und in der Zeit nach den Lockdowns Werbung für die Kultur – für das, was Kunst und Kultur bedeuten und was sie leisten?

Zimmermann: Darüber müssen wir unbedingt nachdenken – zumal sogar die Kino-Blockbuster, die für die Zeit nach den Lockdowns aufgehoben wurden, bei Besucherinnen und Besuchern nicht zu einem Ansturm auf die Kinos führten. Das Verhalten hat sich verändert: Nicht nur das Theaterpublikum bleibt teilweise zu Hause, viele, gerade Jüngere, treffen sich nicht mehr wie vor der Pandemie mit Freunden im Kino, sondern streamen gemeinsam zu Hause auf der Couch.

Ist das ein Phänomen, das überall gleich festzustellen ist?

Zimmermann: Je weiter man aus den Städten in ländliche Regionen geht, desto deutlicher zeigt sich das. Es ist aber auch in den Metropolen festzustellen. Zum Beispiel das Berliner Theatertreffen: Früher hat man für diese außergewöhnliche, hochkarätige Veranstaltung in der Regel nur Karten bekommen, wenn man sehr gute Beziehungen hatte. In diesem Jahr konnte man dagegen Tickets einfach an der Abendkasse kaufen.

Tatsächlich ist aber nicht jeder Film großes Kino, nicht jede Skulptur, jedes Gedicht, jeder Roman, jede Komposition ist große Kunst.

Zimmermann: Worum es geht, wird deutlich, wenn man Kunst und Kultur als eine Art Gesamtwerk betrachtet, das sich aus unterschiedlich großen und unterschiedlich bedeutsamen Mosaiksteinen zusammensetzt: als Teile eines kritischen, differenzierenden, herausfordernden, inspirierenden Ganzen.

Interview: Sabine Schmidt

Zur Person: Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats.

Foto: Deutscher Kulturrat/Jule Roehr