Herr Dr. Otto, was war das Ziel der Delphi-Studie „Energy Future 2040“?
Otto: Entscheidungsträger sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft brauchen Zielvorstellungen und Orientierung bezüglich möglicher und zukünftiger Entwicklungen. Die Delphi-Methode wird angewandt, um systematisch einen langfristigen Blick über 20 bis 40 Jahre in die Zukunft zu werfen. Dabei werden Experteneinschätzungen und Meinungen über künftige Phänomene und Entwicklungen gesammelt, verknüpft und bewertet. Mit Delphi Energy Future wollen wir zentrale Treiber, Akteure und Dynamiken identifizieren, die die Zukunft der Energiesysteme maßgeblich beeinflussen werden. Es soll aber auch ein Sektor übergreifender Kommunikationsprozess angestoßen werden, bei dem Fachleute weltweit alternative Entwicklungen und langfristige Handlungsstrategien im Energiebereich diskutieren.
Was sind die Kernergebnisse der Studie?
Otto: Die Mehrheit der befragten Experten – über 60 Prozent – glaubt, dass sich die internationale Gemeinschaft bis 2040 auf verbindliche Ziele zur Reduktion von CO2-Emissionen geeinigt hat – und diese auch umsetzt. In einem weiteren Punkt sind sich die befragten Experten weitgehend einig: Europa wird in den nächsten beiden Jahrzehnten eine harmonisierte Energie-Innenpolitik und einen leistungsfähigen Energie-Binnenmarkt aufbauen, basierend auf einer hochleistungsfähigen grenzüberschreitenden Infrastruktur. Weitere Studien-Ergebnisse sind: Konventionelle Kraftwerke werden kleiner und flexibler, ebenso werden die Verbraucher ihre Nachfrage flexibilisieren – zum Beispiel durch Demand Side Management, also die auf Kosteneinsparung zielende zeitliche Steuerung der Energienachfrage. Ob Verbraucher Versorgungssicherheit in Zukunft separat als Dienstleistung kaufen müssen, Versorgungssicherheit damit also einen Preis bekommt, darüber gehen die Meinungen der befragten Experten auseinander. Insgesamt haben wir 56 Thesen abgefragt und anschließend in Zusammenhang gebracht.
Ist Deutschland mit seinem „Jahrhundert-Projekt Energiewende“ auf dem richtigen Kurs?
Otto: Die Mehrheit der Experten hält es für wahrscheinlich, dass Deutschland die internationale Systemführerschaft für das Management und die Technik eines vor allem auf erneuerbare Energien aufgebauten Energiesystems haben wird. Zugleich sehen viele von ihnen China im Jahr 2040 als den weltgrößten Entwickler von Erneuerbare-Energien-Technologien. Demnach könnte sich zukünftig ein Wettbewerb um die Technologieführerschaft abzeichnen, auf den es sich schon heute vorzubereiten gilt. Was ebenfalls sehr deutlich wurde, und darum werben alle Kooperationspartner, ist der Umstand, dass bei uns die Energiewende sehr durch Regulierung und Gesetze getrieben ist, weniger durch Technologien oder den Markt. Das sollte sich ändern, weil viele andere Länder und Gesellschaften die Energiewende nur so betreiben. Deutschland beschreitet einen Weg, den nur wenige Länder gehen. Das sollten wir überdenken.
Welche Erkenntnisse der Delphi-Studie sind für die deutschen Kommunen und Regionen besonders interessant?
Otto: Fast zwei Drittel der Interviewpartner sehen in Zukunft einen neuen, hocheffizienten Typus von Städten entstehen. Diese reduzieren ihren Energiebedarf durch intelligente Vernetzung auf allen Ebenen und bilden autarke „Energiezellen“. Diese Experten halten ein derartiges Szenario für wahrscheinlich, verknüpfen es zudem mit der Erwartung, dass sich die Nutzung dezentraler erneuerbarer Energien auch auf die gesellschaftliche Selbstorganisation positiv auswirkt. Dies beträfe unter Umständen auch weit mehr als die reine Energieversorgung. Mit 63 Prozent ist die deutliche Mehrheit der Interviewpartner davon überzeugt, dass sich die energetische Biomassenutzung aus mehreren Gründen nicht flächendeckend durchsetzen wird. Die überwiegende Mehrheit der Experten geht davon aus, dass sich bahnbrechende neue Technologien im Bereich der Fotovoltaik bis zum Jahr 2040 im Markt durchsetzen und die dezentrale Stromerzeugung weiter vorantreiben werden.
Welche Herausforderungen und Handlungsbedarfe lassen sich daraus für den kommunalen Sektor ableiten?
Otto: Zum einen wird sich das Kunden- und Konsumverhalten signifikant ändern. Das wird schon heute diskutiert. Die angesprochenen Stadtstrukturen lassen vor allem die Notwendigkeit entstehen, das gesamte Portfolio der Daseinsvorsorge in solchen Zellen abzubilden. Das wäre schon jetzt zu prüfen, ob und wie sich eine solche Struktur konkret vor Ort verwirklichen ließe. Was sich einfach sagt, aber oft vernachlässigt wird, sind Visionen vor Ort. Gerade die internationalen Experten bewundern Deutschland, sie sind fasziniert, sie sind aber auch enthusiastisch, was neue Entwicklungen in Technologien angeht. Diese Offenheit, dieser Freude auf Kommendes, diese Zukunftsorientierung müssten wir wieder stärker generieren und beleuchten.
Werfen wir einen Blick insbesondere auf den Energiebedarf in wichtigen Sektoren wie Strom, Wärme, Verkehr: Aus welchen Quellen wird dieser in den Städten und Gemeinden des Jahres 2040 gedeckt?
Otto: Die Zuversicht in technologische Fortschritte, die den Ausbau, die Vernetzung und die Anwendung erneuerbarer Energien vorantreiben, ist ausgeprägt. So erwarten drei Viertel der Experten, dass 2040 Strom aus erneuerbaren Quellen Erdöl und Erdgas in Wärmeproduktion, Mobilität und Industrie ersetzt. „Überschussstrom“ der volatilen Erneuerbaren wird sinnvoll genutzt, auch wenn der zeitliche Schwerpunkt von vielen Interviewpartnern erst deutlich nach 2040 gesetzt wird. Weitere Thesen deuten ebenfalls in Richtung eines multidimensionalen Einsatzes von Strom aus Erneuerbaren. Generell wird erwartet, dass Aspekte wie Wirtschaftlichkeit, Flexibilität und Autarkie die Energiewende treiben. Technologische Durchbrüche und sinkende Kosten für entsprechende Systeme bewirken eine wachsende Einsatzbreite.
Wird die Entwicklung der Energiesysteme hin zu mehr Dezentralität die Eigenverantwortlichkeit der Bürger vor Ort und die Bedeutung der kommunalen Ebene stärken?
Otto: Die Chancen dezentraler Energieerzeugung aus erneuerbaren Quellen für die kleinräumige Entwicklung werden viel diskutiert. Die These eines neuen Schubs für die demokratische lokale Selbstorganisation bezieht daraus ihre Berechtigung. Überraschend ist: Über 70 Prozent der Experten halten dieses Szenario für Europa für realistisch. Weitere technische, politische und ökonomische Faktoren weisen in eine ähnliche Richtung: So wird der Nationalstaat nicht mehr als der zentrale Akteur verstanden, während eine Gleichzeitigkeit von multilateraler Governance und Dezentralisierung angenommen wird. Dezentrale Energien werden leicht erschwinglich – und möglicher Weise auch zunehmend in Bürgerhand finanziert.
Die Entwicklung eines zukunftsfähigen, nachhaltigen Energiesystems erfordert Grenzen übergreifendes Denken und Handeln. Braucht Deutschland einen „Masterplan Energie“?
Otto: Unsere Studie bildet einen sehr langen Zeitraum ab. Wir sind einer anderen Frage nachgegangen, nämlich ob Energie nicht von übergeordneter Stelle koordiniert wird. Dies halten weltweit Experten für wahrscheinlich. Noch mehr halten es für Europa wahrscheinlich. Dies aber nur mit einem gemeinsamen Binnenmarkt, in dem einzelne Energieinseln und Zellenstrukturen sich abbilden, die nicht mehr an Ländergrenzen halt machen. Die Antwort auf Ihre Frage wäre dann obsolet, weil ein Masterplan wohl in Brüssel liegen würde.
Interview: Wolfram Markus
Zur Person: Dr. Sven-Joachim Otto ist Partner bei der Rechtsanwaltsgesellschaft PwC Legal in Düsseldorf und Mitglied des Delphi-Energy-Future-2040-Steuerungskreises
Info: Alle Ergebnisse der Studie sind auf www.delphi-energy-future.de abrufbar.