Die Gerechtigkeitslücke

Bei der Bildungsgerechtigkeit in Deutschland gibt es starke regionale Unterschiede. Die Chance, einen guten Schulabschluss zu erreichen, ist demnach auch vom Wohnort abhängig. Weite Wege zur Schule wirken chancenmindernd. Für Regionen abseits der Ballungsräume wird das zum Problem.

Der Nationale Bildungsbericht ist, was die Analyse der deutschen Bildungslandschaft betrifft, eine Institution. Im zweijährigen Turnus legt die Autorengruppe Bildungsberichterstattung, ein Gremium unabhängiger Wissenschaftler unter der Federführung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF), die Studie vor. Sie soll Politik und Öffentlichkeit Hinweise auf Entwicklungen im Bildungswesen geben und die Grundlagen für tragfähige Weichenstellungen in der deutschen Bildungspolitik liefern. Die fünfte, im Juni 2014 veröffentlichte Auflage des Bildungsberichts konstatiert – der PISA-Schock von 2009 ist noch nicht vergessen – eine weitere Verbesserung der Bildung in der Bundesrepublik. Dass sich mit einem höheren Anteil der Abiturabschlüsse und einer steigenden Zahl von Hochschülern formal der Bildungsstand der Deutschen erhöht, täuscht über ein Problem hinweg: Fast jedes drittes Kind wächst in einem Umfeld auf, das ihm schlechte Bildungschancen bietet. Risikolagen nennen das die Forscher, und zu diesen zählen erwerbslose, armutsgefährdete und bildungsferne Elternhäuser.

Lücken in der bildungsbezogenen Chancengerechtigkeit scheinen sich jedoch nicht nur als Folge der sozialen Herkunft (und der jeweiligen Landes-Schulpolitik) zu ergeben. Auch der Wohnort spielt eine Rolle. Das hat der „Chancenspiegel 2014“ der Bertelsmann-Stiftung, des Instituts für Schulentwicklungsforschung der Technischen Universität Dortmund und des Instituts für Erziehungswissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena herausgefunden. Der Spiegel analysiert jährlich, wie gerecht und leistungsstark das jeweilige Schulsystem der Bundesländer ist.

Starke regionale Streuungen

Für die aktuelle Erhebung wurden erstmals auch Kreise und kreisfreie Städte untersucht. Dabei ist im Ausmaß überraschend, dass Bildungschancen auch innerhalb der einzelnen Bundesländer regional höchst ungleich verteilt sind. Beispiel Bayern: Im Landesschnitt verlassen lediglich 4,9 Prozent der Jugendlichen die Schule ohne einen Abschluss – ein sehr guter Wert. In der Betrachtung der einzelnen Landkreise und kreisfreien Städte schwankt dieser Anteil allerdings zwischen 0,7 und 12,3 Prozent. Beispiel Sachsen: Landesweit schließen 44,7 Prozent der Schüler ihre schulische Laufbahn mit dem Abitur oder dem Fachabitur ab; die kommunale Streuung aber liegt zwischen 32 und 63 Prozent. Es kommt also auf das Schulangebot vor Ort beziehungsweise in der Region an.

Als ein „Ungerechtigkeitsmoment“ machen die Forscher lange Schulwege aus. Wie weit Bildungseinrichtungen vom Zuhause entfernt liegen, ist ein zentraler Faktor für die Schulwahlentscheidung. Schüler, die größere Distanzen zurücklegen müssen, um eine höhere Schule besuchen zu können, sind tendenziell benachteiligt. Dabei wirkt dieser Faktor vor allem auf benachteiligte Milieus: Kinder aus ärmeren und bildungsfernen Elternhäusern werden im Zweifelsfall unter Umständen schon allein aus Kostengründen kein Gymnasium besuchen, selbst wenn sie hinsichtlich Intellekt und Lernwillen gute Voraussetzungen dafür aufwiesen.

Außerhalb der Ballungsräume dürften in den kommenden Jahren die Chancen für Kinder aus den Risikolagen, einen guten Bildungsabschluss zu erhalten, noch sinken. Denn in den ländlichen Regionen, insbesondere denen in Ostdeutschland, stehen viele Kommunen vor dem Problem, überhaupt ein wohnortnahes Schulangebot vorhalten zu können. Dort sinken die Schülerzahlen rapide, gleichzeitig steigen die Ausgaben, die in den neuen Ländern pro Schüler aufgewendet werden müssen. In Thüringen sind es jährlich 7700 Euro, was weit über dem Bundesdurchschnitt von 5800 Euro liegt. Sachsen-Anhalt und Sachsen müssen mit 7100 beziehungsweise 7000 Euro kaum weniger als der Spitzenreiter hinlegen.

Link-Tipp

Kostenloser Download des „Chancenspiegels“ der Bertelsmann-Stiftung, des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) an der TU Dortmund und des Instituts für Erziehungswissenschaft (IfE) der Friedrich-Schiller-Universität Jena – Weitere Informationen und Download von Regional- und Detailergebnissen der Studie

Die Folgen: Schulen am Wohnort werden geschlossen, Bildungseinrichtungen des gymnasialen Sektors zusammengelegt. Während laut Nationalem Bildungsbericht seit 1998 die Zahl der Kindertageseinrichtungen um neun Prozent und die der Hochschulen um 24 Prozent stieg, sank im gleichen Zeitraum die der allgemeinbildenden Schulen um 19 Prozent. Die Schulweglängen steigen deutlich an.

Die Bildungschancen sind von der Finanzkraft der jeweiligen Kommune abhängig. In den Regionen, die schon jetzt ihre Schullandschaft ausdünnen und Standorte konzentrieren müssen, dürften wachsende kommunale Verschuldung und die Schuldenbremse für die Länder ab 2020 das Problem der unterschiedlichen Bildungschancen noch vergrößern.

Abseits politischer Sonntagsreden über den Wert der Bildung zeigt die große Politik kein überdurchschnittliches Engagement, mehr Geld für Schulen in die Hand zu nehmen. Zwar stiegen die Gesamtausgaben für Bildung, Forschung und Wissenschaft 2012 auf 247,4 Milliarden Euro, das Ziel, sie bis 2015 auf zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu steigern, wurde mit 9,3 Prozent jedoch verfehlt. Der prozentuale Anteil des Bildungsbudgets am BIP sank im Vergleich zum Vorjahr sogar (2012: 5,8%).

Wolfram Markus