Gesellschaftliche Entwicklungen wie Mobilität, Individualität und Urbanisierung wirken auch auf den Friedhof ein. Seine religiösen und kulturellen Funktionen rücken ins öffentliche Interesse. Um den Ort der letzten Ruhe zu erhalten, sollte versucht werden, den Wandel zu gestalten, anstatt ihn aufhalten zu wollen.
Die persönliche Erfahrbarkeit vom Sterben und Tod der anderen ist in den modernen Gesellschaften durch Effizienzwillen, Rationalisierung und Bürokratisierung deutlich erschwert worden. Nachdem im Europa des frühen Mittelalters die Erdbestattung in das Zentrum der christlichen Gemeinden rückte und damit die antike Tradition der Beisetzung außerhalb der Stadtmauern überkommen war, wurden seit dem späten 18. Jahrhundert die Toten meist nicht mehr in oder neben den Kirchen beerdigt. Aus hygienischen Gründen und Platzmangel entstanden in den Städten neue Friedhöfe am Rand der bewohnten Bezirke.
Das alltägliche und geschäftige Leben im Zentrum der Städte wird seitdem nicht mehr von der Anwesenheit des Todes gestört. Alle organisatorischen Schritte hin zu einer Bestattung geschehen weitgehend im Verborgenen. Nur noch Staatsbegräbnisse erregen öffentliche Aufmerksamkeit, und die Todesanzeigen zeugen vom ursprünglichen Bedürfnis, den Tod eines Mitmenschen öffentlich zu betrauern. Den Tod der anderen erleben hauptsächlich Angehörige, Freunde und jene Menschen, die als Ärzte, Pflegekräfte, Sterbebegleiter, Sanitäter, Bestatter oder Seelsorger arbeiten. Die große Mehrheit der Bevölkerung ist seit dem Einzug der Moderne in die Lage versetzt, die rationale und emotionale Auseinandersetzung mit dem eigenen Ableben erfolgreich zu vermeiden – und dies trotz der Omnipräsenz des Todes in den Medien.
Dem Streben nach einem vermeintlich individuellen Leben in modernen Gesellschaften steht die Zunahme der Anonymisierung des Sterbens und der Bestattungsformen gegenüber. Sie können als weiterer Schritt einer Rationalisierung und der damit verbundenen Zurückdrängung von traditionellen Ritualen und des Individuellen im Tod gedeutet werden. In dem seit vielen Jahrzehnten ansteigenden Wunsch nach Feuerbestattungen (mittlerweile sind es bundesweit rund 70 %) zeigt sich zudem ein geradezu körperauslöschendes Effizienzstreben.
Der Körper soll nicht langsam verwesen, sondern muss sauber verbrannt werden, um ihn danach möglichst platz- und kostensparend beizusetzen. Oder die Urne mit den Überresten des geliebten Menschen steht im Regal, ohne öffentlichen Gedenkort, der Gemeinschaft entzogen, doch dafür stets mobil und anwesend. Die wichtige Funktion, die eine Bestattung im Prozess von Abschied und Trauer innehat, wird dabei ignoriert.
Trauer und Gedenken werden in sozialen Medien gelebt
Alternativ zum konfessionellen oder kommunalen Friedhof bietet sich seit 2001 die Naturbestattung in sogenannten Bestattungswäldern an. Der deutsche Sehnsuchtsort Wald wird zur romantischen Metapher des beschleunigten Eingehens in den Kreislauf der Natur. Die vermeintlich rückstandslose Kompostierung findet also – wie bereits in der Antike – wieder vor den Stadtgrenzen, ja sogar weit außerhalb der bewohnten Zivilisation statt. In Bestattungswäldern muss und darf niemand ein Grab gestalten, noch pflegen. Die langen Ruhefristen von 99 Jahren beruhigen die Angehörigen zusätzlich, da sie sich die Frage nicht mehr stellen müssen, was nach Ablauf der Frist sein soll.
Diese Form der Entsorgung der sterblichen Überreste dient vor allem dazu, den Nachkommen oder Verwandten vermeintliche Sorgen zu nehmen. Die Bedeutung des Verlusts eines Trauer- und Gedenkorts im sozialen Gefüge des Wohnorts wird meist nicht wahrgenommen, denn die Anforderungen an eine mobile Gesellschaft haben viele Familien längst in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Trauer und Gedenken lösen sich zunehmend von einem konkreten Ort, wandern zum Teil in den digitalen Raum und werden virtuell in den sozialen Medien gelebt.
Noch sind die Friedhöfe die zentralen Orte in unseren Städten und Gemeinden, an denen sich unser Umgang mit dem eigenen Tod und vor allem mit dem Tod unserer Angehörigen offenbart. Noch ist der Friedhof der zentrale Ort der öffentlichen Trauer und des kulturellen Gedenkens. Er wird es jedoch nur bleiben, wenn alle gesellschaftlichen Kräfte erkennen, dass dieser Ort – wie jede Oper, jedes Theater, jedes Museum, jede Sporthalle und jeder öffentliche Park – Unterstützung benötigt, denn Friedhöfe sind kulturelle Orte und nicht bloß Orte der Entsorgung.
Es wird zukünftig darum gehen, die Funktionen der Friedhöfe in Teilen neu zu denken. Welche sind dies oder könnten es sein, und wie können diese als gesellschaftliche und als bezifferbare Werte kommuniziert und gegenüber der Öffentlichkeit vertreten werden? Neben der Primärfunktion der Bestattung und der Trauerarbeit sind die Sekundärfunktionen des Friedhofs schon heute: ökologische Nachhaltigkeit für die Stadtlandschaft, Räume für Ruhe und Erholung. Zudem entwickeln sich in vielen Kommunen konkrete Funktionen als Orte der Kommunikation und der Kultur. Das Museum für Sepulkralkultur in Kassel trägt die Kultur im Namen; die Sepulkralkultur leitet sich bekanntermaßen vom Grab und den Bestattungsriten ab. Verlusterfahrung und Trauer sind seit alters her enorm starke, kulturelle Triebkräfte.
Friedhöfe stehen unter Innovationsdruck
Was spricht gegen Lesungen, Aufführungen oder gegen Konzerte auf Friedhöfen? Alles natürlich in einem inhaltlichen Rahmen, der mit den Menschen zu tun hat, die dort ihre letzte Ruhe gefunden haben. Es geht nicht darum, den Zirkus auf den Friedhof zu holen, aber sinnliche und gehaltvolle Beiträge können die öffentliche Anerkennung des Friedhofs als Ort des gemeinsamen Gedenkens und der Trauer stärken und zugleich gegen die Vereinzelung in unserer Gesellschaft wirken. Zudem kann so eine persönliche Bindung zu einem Ort entstehen, den sich die Menschen für die eigene Bestattung vorstellen können.
Die Probleme der Friedhöfe liegen auf der Hand und sind zu einem Teil auch selbst verantwortet. Auch die Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal hat in früheren Jahrzehnten dazu beigetragen, dass der Friedhof zu einem überreglementierten Ort wurde, dessen Geschäftsmodell in Zeiten seines Monopols für viele lukrativ war. Dem Friedhof haben die Kombination aus starren Verordnungen und gestiegenen Gebühren und Preisen schwer zu schaffen gemacht, und so sind die Menschen auf die Suche nach Alternativen gegangen. Neue Angebote und Geschäftsmodelle wurden hierfür geschaffen. Der Innovationsdruck auf die Friedhöfe hat sich deutlich erhöht, und es gibt immer mehr mutige Friedhofsverwalter, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten Neues versuchen. Ein Wettbewerb hat begonnen, und das ist grundsätzlich nichts Schlechtes.
Globale und unausweichliche Entwicklungen oder neudeutsch Megatrends stellen in allen gesellschaftlichen Bereichen große Herausforderungen dar, die dazu geführt haben, dass sich familiäre und gesellschaftliche Strukturen in den Städten und auf dem Land wandeln: Individualisierung, Mobilität, Digitalisierung, die demografische Entwicklung oder die forcierte Urbanisierung fordern unsere Kreativität und unseren Gestaltungswillen heraus. Sehen wir es als Chance, nicht als Gefahr, dass sich auch die Bestattungskultur in einer Phase starken Wandels befindet. Wir können die globalen Megatrends nicht an unseren lokalen Friedhofsmauern aufhalten. Sollten wir dies versuchen, werden wir zum Totengräber des Friedhofs. Wir müssen versuchen, den Wandel zu gestalten, und wir sollten dabei nicht vergessen, dass Wandel und Veränderung der normale Zustand jeder Kultur ist.
Dirk Pörschmann
Der Autor
Dr. Dirk Pörschmann ist Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal und leitet in dieser Funktion das Zentralinstitut und Museum für Sepulkralkultur in Kassel