„Neue Anreize für eine Perspektive auf dem Land“

Mehr als die Hälfte der Deutschen lebt in Gemeinden und Städten auf dem Land. Gleichwertige Lebensverhältnisse für alle Bürger sicherzustellen, rechnet die Politik seit Jahrzehnten zu ihren Aufgaben. Christian Schmidt (CSU), Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, erläutert im Interview seine Akzente in der Strukturförderung und nimmt Stellung zu den Perspektiven der Integration und dem Ausbau der Infrastruktur.

Herr Minister, zu den Aufgaben des Bundes gehört die Schaffung gleicher Lebensverhältnisse. Was bedeutet das für die ländlichen Regionen in Ost- und Westdeutschland 25 Jahre nach der Wiedervereinigung? Gibt es deutliche Unterschiede?

Schmidt: Die Vielfalt ländlicher Regionen wird von zahlreichen Faktoren bestimmt, wie den Landschafts- und Siedlungsformen, der wirtschaftlichen Situation oder der Bevölkerungsentwicklung. Nicht nur Ostdeutschland durchläuft einen Strukturwandel, sondern auch abgelegene oder altindustrielle Regionen in westdeutschen Ländern. Daher sollten wir fast eine Generation nach Herstellung der deutschen Einheit nicht Ost und West in den Fokus nehmen, sondern strukturschwache und peripher gelegene ländliche Regionen. Die Sicherstellung der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse – nicht zu verwechseln mit „Gleichheit“ – gehört zu den zentralen Zukunftsaufgaben in der Strukturförderung, der Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern und nicht zuletzt der ländlichen Entwicklung.

Seit Jahrzehnten engagiert der Bund sich in der Strukturförderung des ländlichen Raums. Der Wettbewerb, der 1961 unter dem Motto „Unser Dorf soll schöner werden“ erstmals ausgeschrieben wurde, heißt heute selbstbewusst „Unser Dorf hat Zukunft“. Was steht heute inhaltlich im Vordergrund?

Schmidt: Die Schwerpunkte des Bundeswettbewerbs verändern sich mit den Herausforderungen in der ländlichen Entwicklung. Im Vordergrund des 25. Wettbewerbes steht die Zukunftsfähigkeit des gesamten Ortes in wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Hinsicht. Es geht um die Bereitschaft, gemeinsam Leitbilder zu entwickeln und Mitverantwortung für die Gestaltung des Gemeinwohls und der Ortsentwicklung zu übernehmen. Das Engagement der Dorfgemeinschaften, die örtliche Lebensqualität attraktiv zu gestalten, verdient Anerkennung. Wie hoch dieses Engagement geschätzt wird, zeigt sich auch daran, dass der Wettbewerb schon seit 1961 unter Schirmherrschaft des Bundespräsidenten steht.

Die Einheiten und Eigentumsverhältnisse der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Ostdeutschland unterscheiden sich deutlich von denen etwa im eher „kleinteiligen“ Süddeutschland. Welchen Einfluss haben diese Strukturen auf die Dorf- und Regionalentwicklung?

Schmidt: Maßgeblich für die Dorf- und Regionalentwicklung sind neben den auch historisch gewachsenen wirtschaftlichen und sozialen Strukturen in Nord und Süd, Ost und West auch die Lage zu den Zentren, die Infrastruktur, die aktuelle Wirtschaftskraft und der demografische Wandel. Zentrales Anliegen der Bundesregierung ist es, die ländlichen Räume mit ihren unterschiedlichen Potenzialen als eigenständige Lebens- und Wirtschaftsräume zu erhalten. Mit meiner Bundesinitiative Ländliche Entwicklung verfolge ich das Ziel, durch Stärkung der regionalen Wertschöpfung und Sicherung der Daseinsvorsorge die Attraktivität des Landes zu erhöhen. Und mit der Weiterentwicklung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ werden wir bessere Voraussetzungen zur Förderung von Infrastrukturen in den ländlichen Regionen schaffen.

Mit dem Förderprogramm „Ländliche Entwicklung“ wollen Sie Akzente setzen, um Regionen abseits der Ballungsgebiete attraktiv für Leben und Arbeiten zu erhalten. Welche beispielgebenden Maßnahmen sind dafür vorgesehen?

Schmidt: Mit dem Bundesprogramm will ich innovative Ansätze in der ländlichen Entwicklung erproben, die gegenwärtig nicht über die Gemeinschaftsaufgabe gefördert werden können. So werden im Modellvorhaben „Land(auf)Schwung“ 13 Förderregionen bei Projekten unterstützt, um regionale Wertschöpfung zu stärken und die Grundversorgung in ländlichen Regionen zu sichern. Mit dem Demonstrationsvorhaben Dorfladen Deersheim in Sachsen-Anhalt wollen wir beispielhaft die Nahversorgung stabilisieren. Zudem verweise ich auf verschiedene Projekte im Bereich der „Sozialen Dorfentwicklung“. Im Zentrum steht dabei, gerade für junge Menschen neue Anreize für eine Lebensperspektive auf dem Land zu schaffen und das Miteinander zwischen den Dorfbewohnern zu fördern.

Wir erleben einen anhaltenden Trend der Urbanisierung. Doch viele Menschen scheint das Leben in der Stadt nicht ganz zu erfüllen – oder wie ist der Boom zum Beispiel der „Land“-Zeitschriften zu erklären, die das Bild vom glücklichen Leben in Einklang mit der Natur und im Rhythmus der Jahreszeiten zeichnen?

Schmidt: Urbanisierung ist ein starker globaler Trend. Dass viele in Deutschland das Leben auf dem Land schätzen – unabhängig davon, wo wir unseren Lebensmittelpunkt haben – hat vor allem damit zu tun, dass wir das Landleben nicht mehr – wie das früher der Fall war – als rückständig wahrnehmen. Auto, Fernsehen und Internet haben ländliche Räume ganz anders angebunden. Das schafft Offenheit – und damit die Chance, die enorm positiven Seiten unserer ländlichen Räume zu zeigen. Und auch wenn das Bild des heilen Landlebens, das oft gezeichnet wird, nicht immer stimmt, bietet das Land doch Freiräume und Gemeinschaft, die es selbstbewusst präsentieren kann.

Wie bewerten Sie die Chancen der Integration von Flüchtlingen in Landgemeinden? Bietet eine traditionell gefestigte Dorfgemeinschaft bessere Voraussetzungen für die Aufnahme von Fremden als die anonyme Gesellschaft einer Großstadt?

Schmidt: Ländliche Räume haben spezifische Potenziale für die Integration von Migranten. Ich denke dabei an die Überschaubarkeit einer Dorfgemeinschaft und kleiner Strukturen sowie das hohe Engagement etwa in Nachbarschaft und Vereinen. Das vereinfacht einen persönlichen und direkten Kontakt. Gelebte Dorfgemeinschaften erleichtern meiner Meinung nach die Integration, allerdings ist eine hohe kulturelle Offenheit und der Wille zum gemeinsamen Gestalten des Zusammenlebens von beiden Seiten unabdingbar. Deshalb bleibt die Integration auch auf dem Land eine große Aufgabe. Wichtig ist, auftauchende Probleme in diesem Prozess offen zu kommunizieren.

Stichwort „Digitale Infrastruktur“: Das Vertrauen auf die Kräfte des freien Wettbewerbs mag in Städten und Ballungsgebieten hinreichen, um ein hochleistungsfähiges Breitbandnetz zu schaffen. Doch was geschieht auf dem Land? Unternehmen Bund und Länder genug, um zu verhindern, dass die Dörfer von der Entwicklung abgehängt werden?

Schmidt: Es ist leider so, aber auf dem Land vermag freier Wettbewerb oft keine ausreichende Versorgung mit digitaler Infrastruktur sicherzustellen. Der Abbau der digitalen Spaltung zwischen Stadt und Land ist daher ein wichtiges Anliegen der Bundesregierung. Mein Ministerium fördert den Breitbandausbau seit 2008 im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“. Dank dieser Maßnahme konnte die Grundversorgung deutlich verbessert werden. Und ab diesem Jahr verstärkt Bundesminister Dobrindt mit 2,7 Milliarden Euro aus dem Bundesförderprogramm den Breitbandausbau, um hochleistungsfähige Netze in unterversorgten Gebieten zu schaffen.

Unverfälscht, naturgewachsen, herzhaft, kernig: Die Reklame für Lebens- und Nahrungsmittel ist geprägt von positiv besetzten Attributen. Wie kann die Landwirtschaft das Versprechen vom „guten Land“ einlösen, wo doch die Realität gezeichnet ist von Skandalen in der Massentierhaltung, artenarmen Monokulturen und Preisverfall?

Schmidt: Die Debatte über die Landwirtschaft wird häufig auf Tierhaltung und Umweltwirkungen verkürzt. Vielen Verbrauchern ist jedoch nicht bewusst, dass die Anforderungen im Hinblick auf Umwelt- und Tierschutz in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen sind. Darüber hinaus sichert die moderne Landwirtschaft unsere Versorgung mit qualitativ hochwertigen Lebensmitteln, sie pflegt die Kulturlandschaft, schafft Arbeitsplätze und Wertschöpfung in ländlichen Regionen. Für diese Arbeit gebührt den Landwirten unser aller Respekt. Deshalb unterstützt die Bundesregierung die Landwirtschaft dabei, sich auch in Zeiten von Preis- und Wettbewerbsdruck an die sich wandelnden Erwartungen anzupassen sowie ihre Leistungen für die Gesellschaft zu erbringen. Denn die Landwirtschaft gehört in die Mitte der Gesellschaft.

Interview: Jörg Benzing

Info: Die Landkreise Stendal (Sachsen-Anhalt), Elbe-Elster (Brandenburg), Hochsauerland (Nordrhein-Westfalen), Kronach (Bayern) sowie neun weitere Regionen in Deutschland nehmen am Modell „Land(auf)Schwung“ des Bundeslandwirtschaftsministeriums teil. In den Regionen sollen jeweils Konzepte erarbeitet werden zur Stärkung der Wertschöpfung und Sicherung der Daseinsvorsorge. Ein Schwerpunkt liegt auf dem Ausbau interkommunaler und interregionaler Zusammenarbeit.

Zum Weiterlesen: Unsere Themenseite bietet den Überblick über alle Fachbeiträge der edition „Zukunft für den ländlichen Raum“