Mobilitätswende, Fachkräftemangel, Pandemie: Der ÖPNV steht vor vielen Herausforderungen. Wie können Kommunen Bus und Bahn attraktiver für die Bürger machen? Vorschläge liefert der Verband deutscher Verkehrsunternehmen (VDV).
Die Coronakrise ist noch nicht überwunden. Auch wenn wir im Kampf gegen die Pandemie in Wirtschaft und Gesellschaft immer besser werden, entpuppt sie sich als Marathonlauf. Zusammen mit der notwendigen nationalen Umgestaltung des Verkehrs für die Mobilitätswende – mit einem starken Ausbau von Bus und Bahn und natürlich der Modernisierung und Digitalisierung der bestehenden Systeme – hat sie sich zu einem veritablen Triathlon für die Branche entwickelt.
Hinzu kommen vor Ort weitere drängende Themen – gerade auch in den Kommunen. Dazu gehört beispielsweise der Fachkräftemangel. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie und der sie begleitenden Einschränkungen verlangen der Bus- und Bahnbranche alles ab. In ihren Auswirkungen werden sie mindestens auch das erste Halbjahr 2022 beherrschen. Wie genau, kann derzeit kaum jemand sagen. Eine Erholung der Fahrgastzahlen werden wir wohl frühestens im Jahr 2023 sehen. Gewissheit herrscht bislang nur über die folgenden drei Dinge:
- Es gibt nach allen vorliegenden wissenschaftlichen Studien kein erhöhtes Ansteckungsrisiko in Bus und Bahn.
- Obwohl die Fahrgastzahlen bei 70 bis 80 Prozent liegen, fährt die Branche auf Wunsch der Politik weitestgehend ihr volles Angebot.
- Der ÖPNV-Rettungsschirm aus dem letzten Jahr bedarf einer Verlängerung.
Es ist deshalb ein gutes Zeichen, dass die neue Bundesregierung sich im Koalitionsvertrag eindeutig für einen Rettungsschirm 2022 ausspricht und die Länder dies ebenso tun. Nur so können wir das volle Angebot auf Straße und Schiene bringen – und die große Klimaherausforderung in Angriff nehmen. Deutschland soll bis 2045 klimaneutral sein. Das Bundesverfassungsgericht hatte am 29. April 2021 klargestellt, dass Klimaschutz auf dem Klageweg erstritten werden kann und daher im deutschen Klimaschutzgesetz von 2019 keine ausreichenden Vorgaben für die Minderung der CO2-Emissionen ab 2031 gemacht wurden.
Kurz zuvor, am 21. April 2021, hatte die EU ihr ehrgeiziges Klimaschutzziel für 2030 verschärft: Das Ziel wurde von 40 auf 55 Prozent Treibhausgasminderung gegenüber 1990 angehoben. Damit erhöhten die EU und das oberste deutsche Gericht den Druck, den Klimaschutz und die dafür notwendige Mobilitätswende – letztlich ein Mehr an Bus an Bahn – zu forcieren.
Die alte Bundesregierung hatte das Klimaschutzgesetz verschärft. Auch die Ampelkoalitionäre versprechen in ihrem Koalitionsvertrag: „Wir werden das Klimaschutzgesetz noch im Jahr 2022 konsequent weiterentwickeln.“ Damit kann von weiteren Verschärfungen ausgegangen werden. Doch je schärfer die Ziele, desto schneller muss auch der Ausbau von Bus und Bahn gelingen. Der ÖPNV wird daher in den Kommunen seine Stärken bei der CO2-Einsparung sowie beispielsweise bei der Flächeneinsparung einbringen müssen.
Umstellen auf Alternative Antriebe
Gleichzeitig müssen die Verkehrsunternehmen sich selbst dekarbonisieren und werden auf alternative Antriebe umstellen müssen – auch wenn Bus und Bahn bereits jetzt einen sehr geringen Anteil an den CO2-Emissionen verursachen. Seit September 2021 gibt es für die Verkehrsunternehmen eine Planungsgrundlage für E-Bus-Neubestellungen. Der Bund fördert seitdem den Aufbau der batterieelektrischen oder wasserstoffbetriebenen E-Bus-Flotten und deren Infrastrukturen in Deutschland noch bis 2024 mit insgesamt 1,25 Milliarden Euro. Damit können der Erwerb von neuen E-Bussen sowie der Aufbau der Lade- und Tankinfrastruktur unterstützt werden.
Die Signale werden nun jedoch immer deutlicher: Die Verkehrsunternehmen haben infolge der EU-Richtlinie „Saubere Fahrzeuge“ ihre Fahrzeugplanungen mit Nachdruck umgestellt und E-Bus-Bestellungen im großen Stil ausgelöst. Nun könnte ihnen drohen, diese zurückzunehmen, da die Fördermittel des Bundes nicht ausreichen werden. Die Kommunen vor Ort können diese Mehrausgaben nicht aus eigener Kraft schultern. Die Mobilitätswende vor Ort droht so ausgebremst zu werden, obwohl die Verkehrsunternehmen und die Aufgabenträger bereitstehen.
Hier brauchen Kommunen und Unternehmen eine Perspektive, sie brauchen Planungssicherheit von der Ampel-Koalition in Berlin. Insbesondere kleinere Unternehmen sind betroffen. Branche und Kommunen sind sich ihrer Verantwortung bewusst und haben Tempo bei der Dekarbonisierung der Flotten in den Städten und Gemeinden gemacht. Der Bund muss jetzt Förderungen vorziehen, denn der ÖPNV steht an der Spitze des Transformationsprozesses zur Dekarbonisierung des Verkehrssektors.
Für den Weg aus der Krise gibt es für die Bus- und Bahnbranche nicht die eine richtige Antwort. Nötig ist ein Maßnahmenmix: Zunächst haben sich die Kunden während der Pandemie durch die ausgeweitete Leistung bei weniger Fahrgästen an mehr Komfort und Qualität gewöhnt. Dieser Anspruch wird bleiben – und die Branche muss ihm genügen. Zudem stellen wir ein verändertes Mobilitätsverhalten bei einzelnen Zielgruppen fest, nicht nur durch das Arbeiten von zu Hause.
On Demand und Sharing
Die Fahrgäste, die vor der Pandemie fünf- bis sechsmal die Woche zwischen Wohn- und Arbeitsort gependelt sind, sind jetzt vielleicht nur noch zwei- bis dreimal wöchentlich auf dieser Strecke unterwegs. Das heißt aber nicht, dass sie weniger mobil sind, sie nutzen nur andere Wege. Und darauf müssen Verkehrsunternehmen und Aufgabenträger sowohl mit betrieblichen Angeboten – ÖPNV-Erschließung von Wohnquartieren, klassisch oder On Demand – als auch mit tariflichen Angeboten wie flexibleren Jobtickets oder Mobilitätsbudgets Antworten finden. Unbestritten ist, dass die Mehrheit der Fahrgäste nicht die Möglichkeit hat, überwiegend von zu Hause aus zu arbeiten.
In der Krise ist deutlich geworden, inwieweit die Mobilitätsanbieter davon abhängig sind, was bei Veranstaltungen, Tourismus oder im Kultursektor möglich ist – genauso bei Schulen und Universitäten. Je eher es wieder ein „Normal“ im täglichen Leben geben kann – auch wenn es ein „neues Normal“ sein wird – desto besser auch für den ÖPNV. Der Schlüssel zum Erfolg ist und bleibt ein nachhaltiges Bekenntnis zum auskömmlich finanzierten Infrastrukturausbau sowie zum Aufwuchs des Leistungsangebotes.
Die Kosten der Dekarbonisierung wie Fahrzeuge und ortsfeste Infrastruktur werden dabei bestimmend sein. Die Mobilitätswende wird indes nicht in den Großstädten und Ballungsräumen entschieden, sondern in großem Maße vor allem in den Kommunen der eher ländlichen Regionen. Diese Tatsache muss allen politischen Entscheidungsträgern bewusst sein.
Hierfür brauchen wir einen starken öffentlichen Verkehr in Verbindung mit einer Stärkung und Integration der Nahmobilität. Die Kombination des klassischen ÖPNV mit On-Demand- und Sharingangeboten ist zukunftsweisend, vor allem dort, wo Bus und Bahn heute ausbaufähig sind. Die Politik kann und muss die Branche bei deren eigenen Anstrengungen zur Ausgestaltung der Mobilitätswende zielgerichtet unterstützen.
Autor: Ingo Wortmann ist seit 2018 Präsident des Verbands deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) in Köln.