Das Auto muss weg! Klingt einfach, die Umsetzung ist schwierig. Gastautor Andreas Knie gibt Anregungen, wie Verkehr in unseren Städten neu gestaltet werden kann, um den Herausforderungen unserer Zeit gewappnet zu sein.
Unsere Gesellschaft befindet sich im Wandel. Neben Krieg und Elend in Osteuropa befinden wir uns mitten in einem Klimawandel. Digitalisierung und der demografische Wandel bleiben uns ebenfalls als Herausforderung erhalten. Wir sehnen uns nach Ordnung und Stabilität und glauben gerne den Reklamebildern, dass die Familie immer noch den sozialen Kern der Gesellschaft darstellt und das Eigenheim das Maß der Dinge ist.
Doch die Veränderungen in unserem Sozialleben sind längst tiefgreifender und nachhaltiger, als uns bewusst ist: Fast die Hälfte der Ehen werden in Deutschland geschieden bzw. die Paare leben getrennt. Knapp ein Drittel der Kinder werden von Alleinerziehenden betreut, in großen Städten wie Berlin sind es sogar zwei Drittel. Der Frauenanteil bei Alleinerziehenden liegt bei gut 80 Prozent. Ein Viertel der Bevölkerung ist bereits jetzt älter als 60 Jahre, ab 2030 sind es sogar ein Drittel. Vater und Mutter verheiratet mit zwei minderjährigen Kindern, also das für uns scheinbar so typische Familienbild, hat als Haushaltsform in Deutschland noch einen Anteil von zwölf Prozent.
Auch wenn es an unsere Berufsbiografien geht, hat ein Wandel eingesetzt. Bereits vor der Pandemie hätten rund 40 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse orts- und zeitflexibel arbeiten können. Während des ersten Lockdowns mussten oder wollten 60 Prozent aller Beschäftigten ins Homeoffice. Nach der Pandemie muss Umfragen zufolge davon ausgegangen werden, dass ein Drittel aller Beschäftigten an bis zu drei Tagen in der Woche nicht ins Büro oder an die Arbeitsstätte möchten.
Zu viele Autos im öffentlichen Raum
Die Familie und die Berufsbiographien sind daher vielfältiger, als wir glauben. Standards gibt es nicht mehr. Das hat Auswirkungen auf die Art, wie wir den Verkehr in den Städten planen müssen. Der Soziologie Ulrich Beck hat diese Auflösungen, Flexibilisierungen und Pluralisierungen der Sozialstrukturen in den 1990er Jahren als eine „Zweite Moderne“ bezeichnet. In den vergangenen Jahren brachte der Sozialwissenschaftler Andreas Reckwitz diese Phänomene mit der Gesellschaft „der Singularen“ auf einen Begriff.
Es ist keineswegs so, dass sich diese Erosionen alter Gewohnheiten auf die Städte konzentrieren werden. Überall im Lande sind diese Tendenzen sichtbar. Die Idee, dass Menschen und Güter möglichst unbehindert und ohne hohe Kosten von jedem Ort nach überall unterwegs sein können, war sogar eine der europäischen Kernideen. Jetzt werden die Folgen sichtbar: Wir haben uns einen arbeitsteiligen und raumgreifenden Lebens- und Arbeitsstil angewöhnt, mit allen seinen für die Kommunen unmittelbar wirksamen Folgen.
Eine dieser Folgen: Es sind zu viele Autos unterwegs, die zu viel öffentlichen Raum okkupieren. Außerdem haben wir Siedlungsgebiete mit Reihenhäuser ausgewiesen, die verkehrserzeugend und flächenversiegelnd wirken. In den Kernstädten fehlt es an Aufenthaltsqualität, und der demographische Wandel verschärft den Generationswechsel beim Wohneigentum. Kurzum: Wir haben Infrastrukturen und Gesetze für eine Gesellschaft, die es so gar nicht mehr gibt.
Straßen als Begegnungsräume
Diese Megatrends können Kommunen nicht stoppen. Aber es hilft, wenn man weiß, was passiert, um nicht wie Don Quichotte gegen Windmühlen kämpfen zu müssen. Menschen ändern sich, und Politik kann es auch.
Die Zahl der Autos muss gesenkt werden. Kommunen können – in Absprache mit den jeweiligen Ländern – die Kosten für den Parkraum neu festsetzen und dies mit einer Tendenz ganz generell öffentliche Flächen nicht länger für private Fahrzeuge zu verschenken. Straßen sind kein Lager für private Pkws, sondern Begegnungsräume für alle.
Als Alternative sind die Füße, das Fahrrad und der öffentliche Verkehr zu fördern. Die Einrichtung von Quartiersgaragen wird dazu genutzt, gleichzeitig Flächen für Co-Working-Spaces bereitzustellen. Denn jeden Tag lange Pendlerstrecken absolvieren will keiner mehr.
Carsharing und Co-Working-Spaces
Busverkehre taugen vielleicht noch für den morgendlichen Schülerverkehr, für alle anderen Zeiten wird Taxi gefahren. Der durchschnittliche Taxipreis von zwei Euro wird von der Kommune innerhalb des Bediengebietes mit einem Euro bezuschusst und mit Hilfe digitaler Plattformen zu gebündelten Verkehren organisiert („on demand“). Klassische Linienverkehre mit Bussen gibt es nicht mehr. Die Novelle des Personenbeförderungsgesetzt erlaubt dies seit August 2021.
Wer kein eigenes Auto bevorraten will, nimmt das kommunale Carsharing-Angebot wahr. Die Autos stehen für spontane Nutzung oder feste Buchung überall auf öffentlichen Flächen. Die Kommunen können auf Basis des Carsharing-Gesetzes dafür eigene Flächen ausweisen.
Diese neuen Betriebsformen wie Quartiersgaragen und Co-Workingspaces lassen sich allerdings nicht nur durch Einnahmen aus Verkauf und Vermietung finanzieren. Wir haben in den vergangenen Wochen gelernt, dass die Bundesregierung schnell handeln kann, wenn Gefahr in Verzug ist: Warum also nicht ein „Sondervermögen für kommunale Transformationsaufgaben in Höhe von 100 Millionen Euro einrichten, das den Gemeinden zur Anschubfinanzierung dieser neuen Betriebsformen zur Verfügung steht? Es wäre längst an der Zeit, dass sich die Kommunalpolitik auf den Weg macht. Dafür muss sie aber auch mit entsprechenden Mitteln ausgestattet sein. Andreas Knie
Der Autor: Prof. Dr. Andreas Knie ist Leiter der Forschungsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und Professor für Soziologie an der Technischen Universität Berlin.