Stadtverkehr: mehr Fahrräder

Marburg; Altstadt
Romantische Kulisse mit reichlich Steigungen: „Im Zeitalter des E-Bikes kann Marburg dennoch zur Fahrradstadt werden“, hofft Michael Kopatz. Foto: Adobe Stock/Boris Stroujko

Seit knapp einem Jahr ist Michael Kopatz im Amt — und will in Marburg umsetzen, woran er im Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie geforscht hat. Der Stadtrat erklärt, was er konkret im Stadtverkehr für die hessische Unistadt vorhat.

Vor einem Jahr sind Sie von der Forschung in die kommunale Praxis gegangen. Warum haben Sie sich dafür entschieden?

Michael Kopatz: Eine plötzliche Wendung war das nicht. Als ich das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie und damit auch die Forschungsprojekte hinter mir gelassen habe, war ich bereits sechs Jahre lang ehrenamtlich in der Kommunalpolitik tätig gewesen. Ich wurde gefragt, ob ich nach Marburg kommen will, und das wollte ich sehr gern. Es ist genau das, worum es mir geht: Es ist hinreichend erforscht, wie sich die Mobilität verändern muss – jetzt müssen wir umsetzen, was wir wissen.

Mehr Fahrräder, weniger Autos und Parkraum, ein starker ÖPNV: Das sind aktuell wichtige Ziele. Tatsächlich aber steigt die Zahl der Pkw, und Marburg mit seinen zum Teil sehr engen Straßen und den Steigungen bietet nicht gerade beste Voraussetzungen fürs Fahrrad. Wie sieht es bei Ihnen vor Ort bei diesem Thema aus?

Kopatz: Aktuell liegt der Fahrradanteil in Marburg bei elf Prozent. Das ist viel zu wenig, nicht nur, aber gerade für eine Universitätsstadt. Im Zeitalter des E-Bikes müsste die Topografie keine Rolle mehr spielen. Das Ziel ist dann auch, dass wir uns tatsächlich zu einer Fahrradstadt entwickeln.

Wie sind Sie selbst unterwegs?

Kopatz: Unsere ganze Familie fährt Rad. Wir haben kein Auto und nutzen seit 1998 Carsharing. Damals war das mit zwei Kindern nicht ganz so einfach, weil man immer erst noch ein ordentliches Stück mit dem Rad zum Auto fahren musste. Inzwischen ist Carsharing aber deutlich komfortabler geworden. In Marburg habe ich mir ein E-Bike gekauft, um trotz der Steigungen bei Terminen noch präsentabel zu sein.

Und was haben Sie vor, um den Radverkehr zu verbessern?

Kopatz: Wir wollen die Anzahl der Radwege erhöhen – wobei ein zentrales Thema die Sicherheit ist. Autofahrer müssen mehr Abstand halten und mehr Rücksicht nehmen. Dafür will ich Piktogramm-Ketten einsetzen, am liebsten würde ich ganz Marburg damit überziehen. Piktogramme auf dem Asphalt sind ein wichtiges, nachgewiesen wirksames Instrument, um Autofahrer auf die sehr viel verwundbareren Radfahrer aufmerksam zu machen.

Es geht nicht nur um das Neben- und Miteinander von Auto- und Radfahrern, sondern auch darum, dass der Autoverkehr zurückgeht. Noch aber scheint das Auto des Deutschen liebstes Kind zu sein – und die Gemüter erhitzen sich schon heftig, wenn eine Stadt etwa Parkgebühren erhöht. Die Mobilitätswende wird nicht ohne die Bürgerinnen und Bürger gelingen, sie müssen dafür gewonnen werden – wie wollen Sie das in Marburg erreichen?

Kopatz: Die Stadt hat hierfür schon vor Jahren einen sehr wichtigen, komplexen, aufwendigen Prozess gestartet und gemeinsam mit einer Agentur sowie mit Bürgerinnen und Bürgern ein Mobilitätskonzept entwickelt: MoVe 35. Bürgerbeteiligung und Partizipation sind hier zentral. Aber wir wollen auch die anderen gewinnen, die nicht an diesem Prozess beteiligt sind. Dafür planen wir eine Kampagne – nicht zuletzt mit Testimonials: wie Bewohner von Marburg, zum Beispiel Mitarbeitende der Verwaltung, mit dem Thema Mobilität umgehen und welche guten Erfahrungen sie mit Carsharing, Radfahren oder dem Bus sammeln.

Fahrrad; Schulweg; Kinder
Kinder, die ungefährdet mit den Rädern unterwegs sind – in einer Stadt mit tatsächlich weniger Autos: Das ist die Idealvorstellung, ander Michael Kopatz in Marburg arbeitet. Foto: Adobe Stock/Irina Schmidt

Wird das reichen?

Kopatz: Es ist ein Mosaikstein in einem natürlich sehr viel größeren Bild. Denn klar ist, dass viele Menschen weniger Verkehr in den Städten wollen, weniger Lärm, weniger Schadstoffe – aber nur sehr wenige wollen auf ihr Auto verzichten, und vor allem will kaum jemand anfangen. Wir brauchen also nicht nur eine Mobilitäts-, sondern auch eine Bewusstseinswende, und hier ist die Politik in der Pflicht. Das sehe ich sehr anders als Bundesverkehrsminister Volker Wissing: Wir müssen mit der Verkehrspolitik nicht einfach auf das Bedürfnis nach mehr Autoverkehr reagieren, sondern uns darum bemühen, dass Autofahrer die Notwendigkeit der Mobilitätswende sehen und mitziehen.

Wenn man sich umschaut, bekommt man allerdings den Eindruck, dass dafür noch das richtige Erfolgsrezept fehlt.

Kopatz: Das eine Erfolgsrezept gibt es auch nicht. Es gibt aber jede Menge Zutaten, aus denen man etwas Gutes machen kann. Unsere Marburger Kampagne mit den Testimonials und konkreten Mobilitätsgeschichten ist eine Zutat. Die Verbesserung der Fahrradsituation kommt dazu. Zudem planen wir in Marburg, im März 2024 ein großes Anliegen von mir umzusetzen: Wir sind auf dem Weg zu einer Auto-Abschaffungsprämie.

Wie soll das aussehen?

Kopatz: Wer sein Auto für mindestens ein Jahr abmeldet, bekommt ein Guthaben von 1000 Euro. Ich habe hier an Gutscheine für Carsharing gedacht, weil das erst einmal hilft, die bisherigen Autoroutinen nicht über Nacht ganz aufgeben zu müssen. Dazu ist eine weitere Idee gekommen, die ich sehr attraktiv finde: Man wird das Guthaben auch im Marburger Einzelhandel einlösen können.

Wird das nicht für die Stadt sehr teuer werden?

Kopatz: Langfristig hoffe ich darauf, dass sich dieses Modell durchsetzen wird und Bund und Länder sich beteiligen. Erst einmal aber müssen und wollen wir in Marburg zeigen, dass dieses Konzept funktioniert, dass es zu einem anderen Verhalten beiträgt: dazu, dass Menschen nicht nur darüber nachdenken, ihr Auto abzuschaffen, sondern es tatsächlich tun. Wie gut sich Carsharing in den vergangenen Jahren entwickelt hat, weiß ich aus eigener Erfahrung, und das Fahrrad wird hoffentlich ebenfalls eine gute und vor allem auch sichere Alternative.

Voraussetzung für die Auto-Abschaffungsprämie soll sein, dass jemand sein Auto für mindestens ein Jahr abmeldet. Warum gerade ein Jahr?

Kopatz: Mobilität ist ein zentrales Alltagsthema. Routinen sind geradezu in uns eingeschrieben – und neue Routinen brauchen Zeit, um sich entwickeln zu können. Für den Zeitraum von einem Jahr ist für mich eine Erfahrungsgeschichte ausschlaggebend. Sie begann damit, dass sich jemand den Fuß gebrochen hat: Ein sehr komplizierter Fall, und es war klar, dass er mindestens ein Jahr lang nicht mehr Auto fahren könnte. Er hat dann sein Auto abgeschafft, sich ein Jahresabo gekauft, ist mit der Bahn gefahren und hat sich während der Fahrten mit der Büroarbeit beschäftigt, die er sonst abends zu Hause erledigt hat. Nach einem Jahr Bahnfahren hat er sich gefragt, warum er überhaupt jemals mit dem Auto ins Büro gefahren ist. Das zeigt sich immer wieder: Man braucht eine Weile, bis man sich umgewöhnt und gute neue Routinen entwickelt – und genau hier wollen wir in Marburg mit unserer Auto-Abschaffungsprämie ansetzen.

Interview: Sabine Schmidt


Zur Person

Stadtrat Dr. Michael Kopatz ist in Marburg zuständig für den Fachbereich Planen und Bauen. Er ist Dezernent für Klimastrukturwandel, Bauen, Stadtplanung und Mobilität.


Michael Kopatz; Stadtrat; Marburg