Für die Gesundheit muss letztlich jeder selbst sorgen – Kommunalpolitik sollte aber gute soziale und bauliche Rahmenbedingungen schaffen: Dafür plädieren die Wissenschaftler Wolfgang Schlicht und Jens Bucksch.
In den Kommunen leben die Menschen. Und dort vor Ort sind sie von den Konsequenzen einer Lebensweise betroffen, die – so haben es der schwedische Resilienzforscher Johann Rockström und Kollegen im Wissenschaftsmagazin „Nature“ dargelegt – bereits planetare Integritätsgrenzen überschritten hat oder bald zu überschreiten droht: der Phosphor- und Stickstoffeintrag auf den Ackerböden sowie der Verlust an bestäubenden Insekten und Vögeln durch extensives und intensives Düngen. Zudem der Verlust an naturnahen Räumen durch Böden, die versiegelt werden, der Anstieg der globalen Jahresmitteltemperatur, der bereits 1,2 Grad erreicht hat, durch eine Produktionsweise und einen Verkehr, die auf fossile Energien setzen.
Die Gesundheit der Bevölkerung wird in Dörfern und Städten beeinträchtigt, gefährdet, gesichert oder gefördert. Damit ist es kommunale Daseinsvorsorge, die Bevölkerungsgesundheit zu erhalten und zu fördern. Gesundheitsförderung ist keine Pflichtaufgabe, aber eine wichtige Aufgabe kommunaler Politik und Verwaltung.
Die meisten präventiven Maßnahmen richten sich aber nicht an die soziale und gebaute Umwelt, sondern direkt an die Bürger. Sie sollen ihr Verhalten risikoarm ausrichten und ihre individuelle Widerstandsfähigkeit stärken. Sie sollen körperlich aktiv sein und erholsam schlafen, Alkohol nur wenig und selten trinken, nicht rauchen, Stress reduzieren und bewältigen, sich reichhaltig mit Gemüse ernähren und bereichernde soziale Kontakte pflegen. Alles in allem reduziert diese Lebensweise tatsächlich gesundheitliche Risiken und erhöht die Lebenserwartung sogar beträchtlich.
Die Resultate der Bemühungen, zu einer solchen Lebensweise zu motivieren, sind aber ernüchternd. Jugendliche rauchen wieder mehr. Erwachsene trinken zu viel Alkohol, essen zu wenig Gemüse und bewegen sich zu wenig. Epidemiologen beklagen eine Zunahme von Risiken für Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen: Übergewicht, Adipositas, Bluthochdruck und Diabetes. In Deutschland ist die Lebenserwartung niedriger als in anderen europäischen Staaten. Viele sind bereits Mitte ihres 50. Lebensjahres kränker als Bürger anderer europäischer Staaten.
Verwaltung gibt den Rahmen vor
Es ist schwer, das Verhalten zu ändern – und alte Gewohnheiten gewinnen bald wieder die Oberhand, wenn sich die Bedingungen nicht ändern, die sie auslösen. Die Bedingungen der sozialen und gebauten Umwelt begrenzen die Verhaltensmöglichkeiten. Vor allem Angehörigen ärmerer Sozialgruppen beschneiden sie die Chance, gesund zu leben.
Neben dem verhaltensorientierten Vorgehen wird deshalb eine policy-basierte kommunale Strategie der Prävention und Gesundheitsförderung dringlich. Die Strategie setzt oben am Fluss (stromaufwärts) an: am gesundheitsermöglichenden Verhalten der politischen und verwaltenden Akteure.
Das heißt: Politiker und Verwaltungsmitarbeiter entscheiden im Verbund mit zivilgesellschaftlichen Akteuren, ob stabile Brücken gebaut und Wasser(läufe) eingedeicht werden — statt auf Akteure wie gesetzliche Krankenkassen zu vertrauen, die stromabwärts Menschen aus den Fluten retten, wenn sie bei der Flussüberquerung auf wackeligen Stegen ins Wasser fallen oder der Pegel gefährlich steigt. Das Bild des Stroms stammt von John B. McKinlay, um die Idee der policy-basierten kommunalen Gesundheitsförderung zu illustrieren.
Möglichkeitsräume öffnen
Was Menschen tun, resultiert aus der Wechselwirkung von Umweltbedingungen sowie individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Ziel kommunaler Politik sollte sein, die Strukturen und den sozialen Zusammenhalt der Kommune zu stärken, also letztlich: eine Kommune ökologisch resilient zu entwickeln. Politik und Verwaltung stellt sich die Aufgabe, so zu handeln, dass Bürger gesundheitliche Verwirklichungschancen ergreifen können.
Das ist komplex herausfordernd, verlangt die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Akteuren, berührt die institutionellen Regeln und ist über standardisierte Antworten nicht zu lösen. Ökologische Resilienz ist ein dynamisches Konzept, das in Betracht zieht, dass zukunftsfähige kommunale Strukturen Wandel erfordern, statt nur die Rückkehr zum Status quo ante nach einer Krise zu sichern, die beispielsweise aus den gesellschaftlichen Herausforderungen resultieren können.
Capabilities – Verwirklichungschancen – haben der Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen oder auch die Philosophin Martha Nussbaum als Chancen definiert, das zu tun, was der eigenen Gesundheit, dem Wohlbefinden, der persönlichen Entwicklung nützt und zugleich dem Gemeinwohl dient. Capabilities brauchen Möglichkeitsräume. Die öffnen sich, wenn das Gemeinwesen Krisen abwehrt und Herausforderungen meistert. Sie sind verstellt, wenn Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft an den Herausforderungen scheitern.
Die Stadt hitzeresilient gestalten
Zu beobachten waren eingeengte Möglichkeitsräume im Hitzesommer 2023. Bei Temperaturen um 40 Grad und darüber waren Verwirklichungschancen vor allem vulnerabler Bevölkerungsgruppen, etwa Kinder und alte Menschen, so stark eingeschränkt, dass sie um ihr Leben fürchten mussten. Im Sommer 2022 sind über 8000 Menschen in deutschen Städten und Dörfern an Hitzestress verstorben.
Die Mitglieder vulnerabler Gruppen nur anzuhalten, sich anzupassen – zum Beispiel im Schatten bleiben oder ausreichend trinken – adressiert lediglich die personale Seite der komplexen „Person-Umwelt-Wechselwirkung“. Sie arbeitet stromabwärts, um eine dramatische Übersterblichkeit zu verhindern.
Gesundheit betrifft viele Ämter
Neben individueller Anpassung ist Mitigation dringlich gefordert. Das bedeutet zum Beispiel, die gebaute Umwelt hitzeresistent zu gestalten: Bäume und Sträucher pflanzen und pflegen, Albedo-Oberflächen verlegen, offene Wasserflächen schaffen, Luftschneisen nicht verbauen, Fassaden begrünen und viele weitere Möglichkeiten nutzen, um Hitze einzudämmen.
Bestehende Strukturen müssen dazu nicht zwingend kostenaufwändig „geschliffen“ werden. Straßen und Gehwege können auch verändert werden, wenn in sie eingegriffen wird, weil etwa Glasfaserkabel oder Anschlüsse an ein kommunales Wärmenetz verlegt werden.
Die Bevölkerungsgesundheit ist (auch) von Politikfeldern betroffen, denen das Etikett Gesundheit nicht sichtbar anhaftet. Dazu gehören die Gestaltung eines Baugebiets, die Verkehrsführung, die Bewirtschaftung der kommunalen Felder, Wiesen und Wälder, die Anlage von Grünflächen. Oder auch die Beschattung von Gebäudefassaden, die Flächenversiegelung und Lärmminderung in einem Gewerbegebiet — das alles betrifft eben auch die Bevölkerungsgesundheit. Wird nur ein Ressort oder Amt wie das Sozialamt oder das Sport- und Bäderamt mit Fragen zur Bevölkerungsgesundheit betraut, bedient es auch nur einen winzigen Ausschnitt im komplexen Wirkungsgefüge von Umwelt und Person.
„Gesundheit in allen Politikfeldern“ (Health in all Policies) und in der kommunalen Steuerung (Health in all Governance) ist das Gebot. Das heißt: alle kommunalen Entscheidungen immer auch durch eine Gesundheitslinse zu analysieren und nicht allein hinsichtlich ihrer ökonomischen Auswirkungen. Es sollte ebenfalls nicht nur darum gehen, ob die Fließgeschwindigkeit des Verkehrs, mithin meist des Autoverkehrs, gesichert ist.
Es geht darum, gut leben zu können
Gesundheitsvorsorge erschöpft sich nicht darin, eine primärärztliche Versorgung (Hausarztpraxis) vor Ort zu sichern. Gesundheit ist mehr: die Bedingung, die es Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht, ihre grundlegenden psychischen Bedürfnisse zu befriedigen, Ziele zu verwirklichen, die ihnen persönlich wertvoll und bedeutsam sind, und am sozialen Leben teilzuhaben.
Kommunale Daseinsvorsorge ist also mehr als Wirtschaftsförderung, Krisenvorsorge, Umweltschutz und Sozialfürsorge: Sie schafft die Bedingungen der Möglichkeit, ein gutes Leben zu führen.
Wolfgang Schlicht, Jens Bucksch
Die Autoren
Prof. Dr. Jens Bucksch leitet das Heidelberger Zentrum für Prävention und Gesundheitsförderung an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Prof. Dr. Wolfgang Schlicht hatte bis zu seiner Emeritierung den Lehrstuhl für Sport- und Gesundheitswissenschaften an der Universität Stuttgart inne.