Seilbahnen als Lösung für den deutschen Dauerstau

Die „Mi Teleférico“ im bolivianischen La Paz ist mit derzeit zehn Linien und gut 30 Kilometern Länge das weltweit größte städtische Seilbahnnetz. Foto: Getty Images/Alexander Haase

Urbane Seilbahnsysteme bieten etliche Vorteile: Sie sind verhältnismäßig günstig, schnell realisierbar und generieren kaum Emissionen. Doch eignen sie sich auch für deutsche Städte wie Stuttgart? Das wird gerade geprüft.

Die Luftlinie vom Stuttgarter Stadtteil Vaihingen zur City beträgt gerade einmal 8,6 Kilometer. Doch wer mit öffentlichen Verkehrsmitteln von der Stuttgarter Königstraße bis nach Vaihingen fahren möchte, benötigt rund eine Dreiviertelstunde. Mit dem Auto ginge das zwar schneller, doch verstopfte Straßen, Staus und schlechte Atemluft sind an der Tagesordnung. Alternativen? Fehlanzeige.

Der Bau von U-Bahnen ist zu teuer und neue Straßen sind infrastrukturell weitestgehend ausgeschlossen. Ein Lösungsansatz, der all diese Probleme im Nu wortwörtlich überflügeln könnte, wäre ein urbanes Seilbahnsystem.
Und so abwegig klingt das auch gar nicht, schließlich müsste eine Seilbahntrasse kaum länger sein als die Luftlinie. Um genau diese Gegebenheiten ausgiebig zu prüfen, ist das Stuttgarter Beratungsunternehmen Drees & Sommer gemeinsam mit dem Verkehrswissenschaftlichen Institut Stuttgart vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur damit beauftragt worden, einen Leitfaden für urbane Seilbahnen zu entwickeln. Ziel ist eine Übersicht zur „Realisierung von Seilbahnen als Bestandteil des ÖPNV“, die in zwei Jahren vorliegen soll.

Lernen von den Großen

Ursprung des Vorhabens war eine Gesetzesänderung Anfang 2020, als Seilbahnen zum förderungsfähigen Teil des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) erklärt wurden. Um den optimalen Einsatz der Seilbahn, die städtebauliche Integration und die Verknüpfung mit dem ÖPVN zu ermitteln, werden dabei in erster Instanz die Seilbahnen in den Städten Medellín, La Paz, New York, Lissabon, London und Ankara untersucht. Daraus sollen letztlich Erkenntnisse für mögliche Seilbahnprojekte in Deutschland abgeleitet werden.

Zwar eignen sich Seilbahnen in gebirgigen Lagen besonders gut als Transportmittel, doch ein Pflichtkriterium ist das nicht: Ein Seilbahnsystem erfordert für den Bau nicht nur wenig Bodenfläche, was in dichtbesiedelten Städten von großem Vorteil und im Vergleich zu U- oder S-Bahnen auch verhältnismäßig günstig und baulich schnell realisierbar wäre. Seilbahnanlagen können – je nach gewählter Bauweise – in zirka sechs bis zwölf Monaten und mit zugleich geringem infrastrukturellen Aufwand errichtet werden.

Den größten Pluspunkt jedoch haben Seilbahnen zweifellos hinsichtlich ihrer Nachhaltigkeit: Staus, Luftverschmutzung und Verkehrslärm zwingen Städte zur Reduktion bestehender Belastungen. Die Gondeln nutzen den Luftraum weitestgehend unabhängig vom übrigen Verkehr, sind technisch ausgereift und strömen vor Ort kaum schädliche Energien in die Umwelt aus. Vor allem aber sind sie leise, sicher und leistungsfähig.

Privatsphäre wird berücksichtigt

Die Argumente der Kritiker, die sich auf Datenschutz und Privatsphäre berufen, weil Gondeln über private Grundstücke hinweg schweben könnten, ließen sich dank moderner Technik regelrecht in Luft auflösen. Sogenanntes „Privacy Glass“ könnte die Scheiben während der Fahrt zeitweilig verdunkeln, um die Einsicht auf Privatgrundstücke zu schützen.

Vor allem der Rückhalt der Bürger scheint in Sachen Seilbahnen das entscheidende Erfolgskriterium schlechthin zu sein. Denn obwohl im Vorfeld häufig und heftig umstritten, wollen die Menschen dort, wo sie umgesetzt ist, ihre Seilbahn nicht mehr missen. Ein transparenter Prozess ist demnach das A und O. Das kann allerdings nur gelingen, wenn die Bevölkerung in dieser Thematik von Beginn an „mitgenommen“ wird.

Der Autor: Sebastian Beck ist Bereichsverantwortlicher Infrastruktur für den Standort Baden-Württemberg bei der Beratungsfirma Drees & Sommer.