Mobilität: Alles in Bewegung

Die Corona-Zeit ist eine Herausforderung für Verkehrsplanung und -politik. Die wichtigsten Fragen ergeben sich aus der Entwicklung von Heimarbeit und Dienstreisen. Zudem stehen das Verhältnis von öffentlichem und Pkw-Verkehr zur Diskussion oder auch neue Aufteilungen des Verkehrsraums.

Die COVID-19-Pandemie hat in ihren Auswirkungen alle Lebensbereiche erfasst und führt zu neuen Herausforderungen in Verkehrsplanung und -politik. Verschiedene Datenanalysen zeigen die Auswirkungen der Kontaktbeschränkungen auf die Verkehrsentwicklung. Die wichtigste Frage bleibt jedoch noch unbeantwortet: In welchem Maße handelt es sich bei den derzeitigen Veränderungen um einen Trend- oder um einen Strukturbruch? Während bei einem Trendbruch nach Ende einer Krise ein Aufholprozess stattfindet, der den zwischenzeitlichen Einbruch (z. B. von Passagierzahlen) kompensiert und eine Rückkehr auf den ursprünglichen Entwicklungspfad stattfindet, führt ein Strukturbruch zu einer dauerhaften Veränderung.

Es wäre vermessen, schon endgültige Antworten geben zu wollen, es ist jedoch wahrscheinlich, dass die Pandemie für den Verkehrsbereich sowohl Elemente eines Trend- als auch eines Strukturbruchs enthält, ohne dass das genaue Verhältnis schon benannt werden kann. Wir werden im Verkehrsverhalten vermutlich eine Mischung von Rückkehr zu früheren Routinen als auch anhaltende Veränderungen erleben.

Die wichtigsten Fragen zum Mobilitätsverhalten ergeben sich bei der künftigen Entwicklung von Heimarbeit und Dienstreisen. In beiden Segmenten haben Unternehmen und Beschäftigte einen ungeplanten Lernprozess durchlaufen. Das Niveau an Heimarbeit der ersten Wochen der Kontaktbeschränkungen wird nicht dauerhaft anhalten. Die weitere Entwicklung wird davon abhängen, in welchem Maße Unternehmen in der wirtschaftlichen Krise die Erfahrungen nutzen, um künftig den Aufwand für Büromieten zu reduzieren, und zu einem dauerhaft höheren Anteil an Heimarbeit beitragen.

Die Konsequenz wäre nicht allein ein Wegfall der Pendlerwege; mittelfristig wirkt sich die Option zur Telearbeit auf Wohnstandortentscheidungen aus. Wenn nicht jeden Arbeitstag der Weg ins Büro zurückgelegt werden muss, gewinnen periphere Wohnstandorte (auch mit schlechterer Verbindung an den öffentlichen Verkehr) an Attraktivität, sodass in der Entfernungsbilanz die Kilometerzahl keinesfalls zwangsläufig abnimmt.

Mehr Heimarbeit wird Standortstrukturen auf dem Büroflächenmarkt als auch bei den künftigen Flächenanforderungen bei der Wohnungssuche beeinflussen. Gerade im suburbanen und ländlichen Raum wird sich die Frage nach der verstärkten Etablierung von Co-Working-Spaces stellen. Auch das hohe Niveau an Online-Bestellungen bringt raumstrukturelle Konsequenzen mit sich, wenn im Einzelhandel weitere Geschäftsschließungen drohen, Einkaufsstraßen an Attraktivität verlieren und darunter Nahversorgungsstrukturen leiden.

Risiko eines Rückschlags für die „Mobilitätskultur“

Das derzeit gravierendste Problem ist die Verschiebung in der Verkehrsmittelnutzung zwischen öffentlichem Verkehr (ÖV) und Pkw. Der Schutz vor Ansteckung und der Verzicht auf Mund-Nasen-Schutz sind aktuell aus Nutzersicht Vorteile des Pkw. Das individuelle Schutzbedürfnis ist psychologisch nachvollziehbar, führt aber zur Umkehrung von manchem verkehrspolitischen Erfolg. Neue Drive-in-Abfertigungen sowie die Renaissance von Autokinos (als Symbol der autoorientierten Stadt) stehen somit nur vordergründig für Kreativität und Pragmatismus. Dahinter steckt auch das Risiko eines Rückschlags für die „Mobilitätskultur“. Eine anhaltende Dominanz des Autos darf nicht die langfristige Folgewirkung der Pandemie sein.

Der ÖV droht durch den Einbruch der Fahrgastzahlen zum Verlierer zu werden. Während die Verkehrsstärken im motorisierten Individualverkehr (MIV) weitgehend wieder das Ursprungsniveau erreichen, ist offen, wie sich die Kundenzahlen im ÖV entwickeln. Der Bund hat zwar eine einmalige Erhöhung der Regionalisierungsmittel in Höhe von 2,5 Milliarden Euro angekündigt. Die Aufgabenträger werden dennoch die Probleme der Verkehrsunternehmen beim Defizitausgleich finanziell spüren.

Bald wird sich in den politischen Diskussionen die Frage stellen, ob aus Budgetgründen mit Angebotseinschränkungen zu reagieren ist. Dies wäre jedoch fatal für die Wettbewerbssituation mit dem Pkw, Daseinsvorsorge und Klimaschutz. Es darf kein Zurück geben zu der früher lange Zeit gebräuchlichen Wahrnehmung, dass der ÖV nur von Zwangsnutzern frequentiert wird. Der Hinweis auf Hygienekonzepte wird nicht ausreichen, um Kunden zurückzugewinnen. Möglicherweise werden neben Kreativität, Marketing, Offenheit für Ideen der Bevölkerung dazu auch tarifliche Anreize notwendig sein.

Finanzielle Rettungsprogramme sowie sinkende Steuereinnahmen werden die Konkurrenz um Finanzmittel zwischen den Politikfeldern ansteigen lassen. Der Rechtfertigungszwang für Projekte wird steigen. Es wäre fatal, wenn gerade neue Ideen, die den Verkehrssektor in den vergangenen Jahren geprägt haben, nun mit dem Argument „können wir uns derzeit nicht leisten“ konfrontiert werden.

Auch für die meisten privatwirtschaftlichen Mobilitätsangebote wie Carsharing ist derzeit noch unklar, wie sie durch die Krise kommen. Der Spardruck bei Automobilindustrie und Verkehrsunternehmen sowie die Zurückhaltung von Investoren bei mobilitätsbezogenen Start-ups dürften dazu führen, dass manches Testfeld für neue Mobilitätsangebote unter Druck gerät.

Gute Fuß- und Radverbindungen fördern die Nahmobilität

In der Phase, in der Sportmöglichkeiten eingeschränkt waren, ist die Bedeutung des Radfahrens als Fitnessaktivität deutlich geworden. Konzepte einer aktiven, gesunden Stadt, die Bewegungsförderung gezielt in die öffentlichen Freiräume integrieren, sollten künftig noch konsequenter umgesetzt werden. Dazu gehört auch die Unterstützung der Nahmobilität mit guten Fuß- und Radverbindungen.

Zumindest in der warmen Jahreszeit spricht einiges dafür, möglichst viele Aktivitäten nach draußen zu verlagern, da dort das Infektionsrisiko durch Aerosole deutlich geringer ist. Um Bewegungs- und Begegnungsräume in Zeiten der Pandemie zu schaffen und mehr Abstand bei der nichtmotorisierten Fortbewegung sowie beim Aufenthalt im Freien zu ermöglichen, haben viele Städte begonnen, temporäre Begegnungszonen oder Pop-up-Fahrradspuren zu schaffen (u. a. Brüssel, Paris, London, Wien). In Deutschland haben bislang nur wenige Städte in dieser Form reagiert.

Die Reduzierung von Parkplätzen oder Fahrspuren, um Platz für Fuß- und Radverkehr zu schaffen, ist jedoch weiterhin eine wichtige Maßnahme. Mehr Platz in den Quartieren stärkt den Einzelhandel und die Gastronomie, um zum Beispiel mehr Sitzplätze im Freien anbieten zu können. Jetzt ist die Chance, mit temporären Experimenten Aufenthaltsqualität zu schaffen und neue Aufteilungen des Verkehrsraums zu erproben.

Chancen für die Verkehrspolitik erkennen

Dieses Jahr wird Urlaub in Deutschland eine hohe Bedeutung haben und zu hohen Frequenzen in Ferienorten führen, obwohl gleichzeitig Abstandsregeln eingehalten werden sollen. Insbesondere für Tagestouristen gibt es in einigen Regionen Pläne für Buchungssysteme, etwa für den Strandzugang. Diese aus der Not geborenen Steuerungsansätze bieten das Potenzial, künftig mit einer verkehrlichen Steuerung kombiniert zu werden. Wenn nach der Pandemie die Anreise nur bei gleichzeitiger verpflichtender Parkplatzbuchung erfolgen würde und gleichzeitig die Konzepte für Urlaub ohne Auto gestärkt werden, wäre für Urlaubsregionen viel gewonnen.

Die Schutzfunktion des Staates ist in den letzten Monaten offensichtlich geworden und in hohem Maße akzeptiert worden. Mit Kontaktbeschränkungen, die zu starken Verkehrsrückgängen geführt haben, wurden – im übertragenen Sinne – Push-Maßnahmen in der weitestgehenden Form angeordnet. Natürlich ist diese Sondersituation nicht auf die „normale“ Verkehrspolitik übertragbar, die in den letzten Jahren durch angebotsorientierte Pull-Maßnahmen geprägt war.

Gleichwohl ergeben sich aus dieser Erfahrung Fragen. Warum wird gegen Verkehrsunfälle, Lärm, Luftverschmutzung, Folgen des Klimawandels so mutlos vorgegangen? Bedeutet die zumindest anfänglich weitgehende Akzeptanz der Einschränkungen künftig, dass sich die Politik auch in anderen Feldern konsequentere Maßnahmen traut? Oder führt der weitgehende „shut down“ mit den später erwachsenen Protesten dazu, dass in nächster Zeit gerade keine restriktiven Maßnahmen beschlossen werden und eine Opposition zu erwarten ist, die auch verkehrspolitische Diskussionen längerfristig sehr mühsam machen könnte?

Es gilt nun, nicht erleichtert zum Tagesgeschehen überzugehen, sondern Handlungsoptionen und Chancen für die Verkehrspolitik zu erkennen, bisherige Defizite zu adressieren und den notwendigen Wandel vorantreiben.

Carsten Gertz

Der Autor
Dr.-Ing. Carsten Gertz ist Professor für Verkehrsplanung am Institut für Verkehrsplanung und Logistik der Technischen Universität Hamburg