Ohne Lesen geht auch in Zeiten der Digitalisierung nicht viel. Um auch Kindern – besonders denen aus Familien, in denen wenig oder gar nicht vorgelesen wird -, den Zugang zu Texten und Büchern zu erleichtern, hat die Stiftung Lesen ihre Leseclubs eingerichtet. Hauptgeschäftsführer Dr. Jörg F. Maas erläutert im Interview das Konzept.
Herr Dr. Maas, viele Kinder und Jugendliche scheinen heutzutage kein Interesse mehr daran zu haben, in ihrer Freizeit Bücher in die Hand zu nehmen. Ist Lesen eine Kulturtechnik auf dem absteigenden Ast?
Maas: Lesen ist auch im digitalen Zeitalter bei Kindern und Jugendlichen gefragt. So liegt laut der JIM-Studie von 2013 der Anteil der Jugendlichen, die täglich oder mehrmals in der Woche lesen, seit 1998 konstant bei rund 40 Prozent – trotz steigender Internetnutzung. Zudem ist belegt, dass dem Lesen auch bei der Nutzung der digitalen Medien eine Schlüsselkompetenz zukommt. So erfordern 60 Prozent der Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen in den digitalen Medien unbedingt Lesen und Schreiben. Die digitalen Leseformate können zudem genutzt werden, um neugierig auf Bücher zu machen. Da man einem e-Book nicht gleich seine Seitenstärke ansieht, trauen sich auch Wenigleser an umfangreiche Bücher. Die Stiftung Lesen ist deshalb der Überzeugung, dass digitale Medien das Lesen fordern und fördern und elementar für eine erfolgreiche Leseförderung sind.
Warum ist eine fehlende Lesekompetenz denn so bedenklich?
Maas: Lesen ist die Schlüsselqualifikation für Bildung. Wer gut lesen kann, ist erfolgreicher in Schule und Beruf, kann sich eine fundierte Meinung bilden und soziale Verantwortung übernehmen. Leider sind nach Ergebnissen der „Leo-Level-One“-Studie von 2011 bundesweit 7,5 Millionen Menschen nicht in der Lage, Texte richtig zu verstehen und richtig zu schreiben; bei der Pisa-Studie 2012 stellte sich heraus, dass von den 15-Jährigen 14,5 Prozent Probleme beim Lesen und Schreiben haben. Diese niedrig qualifizierten Jugendlichen haben häufig Schwierigkeiten, einen Ausbildungsplatz zu finden.
Die Stiftung Lesen sieht kommunale Einrichtungen wie Jugendzentren oder Mehrgenerationenhäuser als wichtige Partner bei der Leseförderung. Warum sollten sich Städte und Gemeinden verstärkt um das Thema bemühen? Es gibt doch Schulen …
Maas: Leseförderung kann nur dann gelingen, wenn sich ihr viele verschiedene Akteure widmen. Deshalb richtet die Stiftung Lesen Leseclubs sowohl im Rahmen von schulischen Ganztagsangeboten als auch in außerschulischen Einrichtungen wie Jugendzentren und Mehrgenerationenhäusern ein, die Kindern einen interessengeleiteten Zugang zum Lesen ermöglichen. Die hohe Nachfrage und der Erfolg der Leseclubs zeigen, wie wichtig freizeitorientierte Leseförderungsangebote sind.
Wie viele solcher Clubs gibt es bislang?
Maas: Die rund 300 Leseclubs der Stiftung Lesen werden regelmäßig von über 6500 Kindern, viele davon mit Migrationshintergrund, besucht. Eine breit verankerte Leseförderung ist eine Investition in die Bildungsfähigkeit der Kinder – und damit auch eine Investition in unsere Wirtschaft und Gesellschaft, die natürlich auch für Kommunen von großer Bedeutung ist.
Warum sollte ein auf den Gebrauch von Smartphone, PC und TV fixiertes Kind einen Leseclub besuchen?
Maas: Die Leseclubs werden in ausgesuchten Einrichtungen mit entsprechenden Zugängen zu bildungsbenachteiligten Kindern eingerichtet. Dass das aktionsorientierte Programm der Leseclubs, das von der Stiftung Lesen durch eine ausgewählte Medienausstattung und Weiterbildungen für Betreuer unterstützt wird, bei den Kindern gut ankommt, belegen die stetig steigenden Mitgliedszahlen in den Leseclubs. Für Kinder aus Familien, in denen nur wenig gelesen wird, ist der Besuch eines Leseclubs natürlich von besonderer Bedeutung. Durch die Medienvielfalt der Leseclubs werden auch Kinder, die weniger gern lesen, „abgeholt“ und können sich neben Büchern auch mit Zeitschriften und Tablets beschäftigen und werden spielerisch an das Thema Lesen herangeführt.
Wird in Deutschland genug getan für die Förderung der entscheidenden Basisqualifikation „Lesekompetenz“? Investieren Bund, Länder und Kommunen hier ausreichend Geldmittel?
Maas: In Deutschland wurden 2011 5,1 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) für öffentliche und private Bildungseinrichtungen verwendet – im Vergleich zu 6,1 Prozent des BIP im Durchschnitt der OECD -Länder, wie die Studie „Bildung auf einen Blick 2014“ herausfand. Vor diesem Hintergrund setzt sich die Stiftung Lesen dafür ein, dass der Ausbau eines leistungsfähigen Bildungssystems und die Leseförderung als gesamtgesellschaftliche Aufgaben betrachtet werden.
Wie können Städte und Gemeinden die Bildungspolitik konkret unterstützen?
Maas: Kommunen können viel dazu beitragen, dass Projektansätze vor Ort aufgegriffen und umgesetzt werden. So helfen beispielsweise Einrichtungen des kommunalen Bildungsmanagements dabei, vor Ort die richtigen Partner und Standorte sowie motivierte Mitstreiter zu finden. Kommunen sollten deshalb eine aktive Bildungspolitik machen und dafür sorgen, dass Kinder in ihren Sozialräumen freizeitorientierte Leseförderungsangebote wie Leseclubs in kommunalen Einrichtungen vorfinden.
Interview: Wolfram Markus
Info: Mit Freude und ohne Leistungsdruck lesen und so Lesekompetenz entwickeln – das ist die Idee hinter den Leseclubs, die die Stiftung Lesen im Rahmen des Förderprogramms „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung für sechs- bis zwölfjährige Kinder in allen Bundesländern einrichtet. Die neuen Leseclubs werden gemeinsam mit jeweils zwei lokalen Bündnispartnern gegründet. Die Leseclubs können bis Ende 2017 unter anderem mit Ausstattungsgegenständen und Weiterbildungen für Ehrenamtliche unterstützt werden. Leseclubs sind ein außerunterrichtliches Angebot, das sich zum Beispiel an Jugendeinrichtungen, Bibliotheken, Mehrgenerationenhäuser und Schulen mit freiwilligen Nachmittagsangeboten richtet. – Hinweise zu Bewerbungen – jweils zwei lokale Partner – sowie weitere Informationen unter www.leseclubs.de