Der Informationsbedarf der Bürger in der Corona-Krise ist groß. Doch wie können die Kommunen die Bürger sicher erreichen? In Form von Online-Dialogen, sagt Jürgen Scheurer, Geschäftsführer von Diskurs Communication. Im Gespräch mit unserer Redaktion erläutert er die Möglichkeiten und Voraussetzung solcher Lösungen.
Herr Scheurer, der intensive Dialog mit den Bürgern gilt als A und O für die Entwicklung zukunftsfähiger Kommunen, in denen die Interessen aller gesellschaftlicher Gruppen nach Möglichkeit Berücksichtigung finden. Welche Auswirkungen hat der Corona bedingte Stillstand hier Ihrer Meinung nach?
Scheurer: Die Kommunen haben viele Themen auf der Agenda, die mit den Bürgern erörtert werden müssen. Die Digitalisierung der Verwaltung, der lokale Ausbau der erneuerbaren Energien oder auch die Wohnungssituation sind unter anderem Themenbereiche, bei denen auch die Meinung der Bevölkerung wichtig ist. Derzeit fallen jedoch Gemeinderatssitzungen und Bürgerversammlungen aus, was dazu führt, dass viele Entscheidungen nicht diskutiert und getroffen werden können. Am Beispiel der Digitalisierung zeigt sich, wie die Versäumnisse der Vergangenheit die Kommunen nun einholen. Die Digitalisierung müsste schneller vorankommen, aber dazu müssten dann auch die Entscheidungen bei Beschaffung, Umsetzung und Einsatz schneller getroffen werden. Derzeit sind viele Kommunen in diesem Bereich nicht richtig handlungsfähig.
Wie können kommunale Prozesse und bestehende Planungen und Projekte weiterlaufen, wenn sich Bürgerversammlungen, Workshops und Runde Tische zurzeit verbieten? Können die Sozialen Medien ein Kanal sein, um den Dialog mit den Bürgern am Laufen zu halten?
Scheurer: Vieles in der normalen Kommunikation und im Verwaltungshandeln kann über digitale Kanäle wie Chat- und Videosoftware relativ normal weiterlaufen. Der Ausbau der Infrastruktur, vor allem für schnelles Internet, sollte dazu allerdings auch in den Kommunen priorisiert werden. Um Bürger schnell zu informieren, können soziale Netzwerke eine Möglichkeit sein, um die Reichweite eigener Kanäle wie der kommunalen Website oder des Gemeindeblattes zu erweitern. Soziale Netzwerke sind jedoch Werbeplattformen und keine Medien. Für einen kommunalen Bürgerdialog sind sie nicht geeignet. Hinzu kommt die teilweise bedenkliche Tonalität der Kommentare in den Netzwerken und Bedenken der Datenschutzbeauftragten, die von Kommunen besonders ernst genommen werden sollten.
Sie empfehlen, in der jetzigen Situation und auch „nach Corona“ auf digitale Bürgerdialoge zu setzen. Warum?
Scheurer: Digitale Bürgerdialog ermöglichten es der Verwaltung auch schon vor Corona, deutlich mehr Bürger zu erreichen und zu beteiligen als dies die Bürgerversammlung in der Gemeindehalle kann. Aktuell ist es sogar die einzige Möglichkeit die Menschen zu verbinden und eine gute Möglichkeit, um Erfahrungen mit einem digitalen Dialog zu sammeln. Unsere Erfahrung zeigt, dass mit einem digitalen Bürgerdialog auch Menschen erreicht werden, die sonst eher zu der sogenannten schweigenden Mehrheit gehören. Nicht jeder hat die Zeit und die Motivation eine Versammlung in der Gemeindehalle zu besuchen und traut sich dort offen zu sprechen.
Können solche Online-Dialog-Formate ein Ersatz für Bürgerversammlungen sein?
Scheurer: In der aktuellen Situation können und müssen Online-Dialoge die Bürgerversammlungen ersetzen. Der Informations- und Kommunikationsbedarf bei den Bürgern ist deutlich höher und notwendige Diskussionen sollten nicht verschoben werden und schon gar nicht wegfallen. Nach der Krise können die Online-Dialoge die klassischen Bürgerversammlungen sehr gut vorbereiten, begleiten und ergänzen.
Der Online-Bürgerbeteiligung wird immer wieder vorgehalten, dass sie nur die digital affinen Gruppen der Stadtgesellschaft erreicht. Droht also die Gefahr eines verzerrten Stimmungs- und Meinungsbildes beim Einsatz von digitalen Dialog-Plattformen?
Scheurer: Im Gegenteil. Bisher werden mit Bürgerversammlungen nur diejenigen erreicht, die sehr engagiert sind und einer Interessengruppe angehören, die mobil ist und jeweils zum angebotenen Termin Zeit hat. Ein Online-Bürgerdialog kann an 24 Stunden jeden Tag genutzt werden. Die beste Bürgerbeteiligung besteht aus der Kombination von digitalen und klassischen Formaten. Im Übrigen sind inzwischen auch immer mehr Senioren online.
Wie lassen sich die „Nonliner“ motivieren, das digitale Dialogangebot zu nutzen?
Scheurer: Das Angebot muss einfach zu bedienen sein, die Beteiligung muss schnell möglich sein und die Plattform sollte nach deutschen Datenschutzrichtlinien sicher sein. Es empfiehlt sich darüber hinaus immer, einen Online-Dialog mit klassischen Kanälen wie Medien, Gemeindeblatt und Flyern zu bewerben. Es lassen sich auch erfolgreiche Generationenprojekte daraus entwickeln, bei denen junge Menschen die Älteren für im Umgang mit den neuen Technologien schulen.
Welche Voraussetzungen braucht es in der Kommune, um eine kommunale Dialogplattform schnell aufbauen zu können?
Scheurer: Die wichtigste Voraussetzung ist der Wille zu einer offenen und transparenten Kommunikation und einem echten Dialog mit den Bürgern. Dann braucht es einen Verantwortlichen, der sich dem Thema annimmt, einen thematischen Fokus setzt und in regelmäßigen Abständen für die Beantwortung der priorisierten Fragen der Dialogteilnehmer sorgt. Alles andere kann auch extern übernommen werden – von der grafischen und technischen Einrichtung der Plattform, über die Moderation des Dialogs bis hin zum Nutzersupport. Das Aufsetzen eines Bürgerdialogs kann sehr kurzfristig erfolgen und innerhalb einer Woche abgeschlossen sein.
Mit welchen Aufwänden – zeitlich, personell und finanziell – muss die Kommune rechnen für die Implementierung eines solchen Angebots?
Scheurer: Die Implementierung einer professionellen digitalen Dialoglösung ist recht unkompliziert und schnell abgeschlossen. Wenn die Entscheidung für den Dialog steht, müssen nur die grafischen, inhaltlichen und zeitlichen Rahmen definiert und übermittelt werden. Der zeitliche Aufwand für das Dialogangebot hängt von der Nutzungsabsicht ab. Es ist möglich, wenig inhaltlich einzugreifen und jeden Monat nur die drei wichtigsten Fragen der Bürger, also die Fragen mit den meisten unterstützenden Stimmen, zu beantworten. Oder man steuert den Fokus des Dialogs durch wechselnde thematische Schwerpunkte, zu denen man die Ideen, Fragen und Meinungen der Bürger erfahren möchte. Eine professionelle, moderierte Bürgerdialogplattform ist auch für kleinere Kommunen erschwinglich und ab rund 3000 Euro im Jahr zu haben.
Eine Dialog-Plattform wird immer nur das „Vehikel“ sein für den Austausch mit den Bürgern. Dahinter wird im Rathaus eine Organisation stehen müssen, die die Austauschprozesse initiiert, steuert und die Ergebnisse auswertet und in die internen Entscheidungsprozesse einspeist. Wie kompliziert – oder einfach – ist das? Wer kann das leisten?
Scheurer: Gerade bei diesem Prozess ist eine Dialogplattform eine sehr große Hilfe. Normalerweise müssen bei Bürgerversammlungen die vielen Vorschläge protokolliert, geclustert, bewertet und dann weiterbearbeitet werden. Bei einer Bürgerdialogplattform mit Funktionen, wie sie beispielsweise „direktzu“ bietet, wird dieser Prozess strukturiert. Die eingehenden Beiträge werden auf Einhaltung der Dialogregeln geprüft, thematisch sortiert und können von den Bürgern selbst priorisiert werden, indem sie mit ihrer Stimme das Anliegen eines anderen unterstützen. Doppelte Beiträge werden über einen Redundanzfilter ausgeschlossen. So entsteht ein strukturierter, qualifizierter und sehr ressourcenschonender Dialog zwischen Bürger und kommunaler Verwaltung.
Interview: Wolfram Markus
Zur Person: Jürgen Scheurer ist Geschäftsführer von Diskurs Communication mit Sitz in Berlin. Der Soziologe und Verwaltungswissenschaftler hat Verwaltungsinformatik studiert und kennt das kommunale Umfeld aus beruflicher und lokalpolitischer Perspektive.