„Für alle eine faire Wettbewerbssituation“

Energiesparen ist ein Gebot der Stunde – und ein anderes, in die Energiewende zu investieren. Carsten Kühl plädiert dafür, Kommunen zu entlasten, gerade auch deshalb, weil ihnen eine besondere Bedeutung zukommt: „Es sind insbesondere die Kommunen, die maßgeblich für das Gelingen des gesellschaftlichen Transformationsprozesses sind.“ Foto: Adobe Stock/gopixa

Die kommunale Ebene ist entscheidend: Vor Ort werden die Weichen gestellt, das streicht Carsten Kühl heraus. Der Difu-Direktor erklärt, wie aus seiner Sicht (noch) mehr Spielraum für Transformation geschaffen werden müsste.

Die Kommunen sind mit immer mehr Herausforderungen konfrontiert, die sich nicht vorhersehen ließen: Corona, Geflüchtete, die versorgt werden müssen, steigende Energiekosten. Was sagen die Kämmerer dazu?

Carsten Kühl: Als Russland im Februar 2022 den Krieg gegen die Ukraine begann, war die Umfrage gerade abgeschlossen, die das Deutsche Institut für Urbanistik jedes Jahr im Auftrag der KfW-Bankengruppe zu den kommunalen Finanzen erhebt. Deshalb haben wir im Mai zusätzlich eine Ad-hoc-Befragung bei den Kommunen durchgeführt. Zu dem Zeitpunkt antworteten rund 50 Prozent der Kämmerer, dass sie allein die hohen Energie-kosten als schwer oder sogar untragbar bewerten.

Was können sie aus eigener Kraft tun?

Kühl: Es sind die naheliegenden Möglichkeiten: höhere Gebühren; höhere Verschuldung; die Streichung freiwilliger Leistungen. Alles keine wirklich guten Lösungen in Zeiten hoher Inflation, steigender Zinsen und einem hohen Ausgabenbedarf zur Finanzierung der Energiewende. Kommunen müssen und wollen sparen, und sie tun es auch. Es gibt aber ein Problem, das sich nicht durch Sparen alleine lösen lässt und das uns seit langem begleitet: der kommunale Investitionsrückstand. Aktuell liegt er bei rund 150 Milliarden Euro. Die Investitionslücke ist damit ungefähr vier Mal so hoch wie der Betrag, den die Kommunen jährlich investieren – also zweifellos erheblich.

Wie bewerten Sie das?

Kühl: Man muss unterscheiden. Es gibt eine strukturelle Unterfinanzierung der Kommunen, die ursächlich für die Investitionslücke ist. Es gibt zudem eine besonders starke Betroffenheit finanzschwacher, hoch verschuldeter Kommunen. Und es gibt darüber hinaus sogenannte nicht-monetäre Hindernisse für kommunale Investitionen.

Woran denken Sie hier?

Kühl: Zum Beispiel lange – zu lange – Planungs- und Genehmigungsprozesse. Dazu kommen Klagen von Bürgerinnen und Bürgern oder Umweltschutzorganisationen, etwa gegen Windräder, Funkmasten oder neue Produktionsanlagen: Widerstand, der in unseren rechtstaatlichen Kontexten Raum haben muss, zugleich aber Investitions-hemmnis sein kann. Jetzt kommen verstärkt Lieferkettenprobleme hinzu. Und ein weiteres gravierendes Problem: der Fachkräftemangel, im Baubereich ebenso wie in den Verwaltungen.

Was ist zu tun?

Kühl: Um die nicht-monetären Hürden überwinden zu können, müssen wir daran arbeiten, schneller und flexibler zu werden: Genehmigungsverfahren beschleunigen; für Fachpersonal, zum Beispiel im IT-Bereich, müssen Verwaltungen sich verändern und auch verändern können, um attraktiv zu werden. Sehr wichtig ist es ebenfalls, Bürgerinnen und Bürger bei neuen Projekten ins Boot zu holen, zum Beispiel beim Stichwort Windräder oder Photovoltaik. Es geht nicht darum, Bürgerbeteiligung zurückzuführen. Es geht darum, Beteiligungsverfahren besser und professioneller zu machen. Und die Altschuldenproblematik muss endlich bereinigt werden. 2019 waren wir auf diesem Weg schon sehr weit – der damalige Finanzminister Olaf Scholz hatte ein Angebot vorbereitet, dann aber kam Corona dazwischen. Es gab stattdessen nur eine sehr großzügige Kompensation der Gewerbesteuerausfälle, die Altschuldenproblematik wurde aber wieder nicht gelöst. Ich halte das nach wie vor für einen großen Fehler.

Warum halten Sie dieses Thema für so gravierend?

Kühl: Die Altschulden führen in einen Teufelskreis: Die Kommunen können nicht investieren, weil sie hoch verschuldet sind. Unterlassene Investitionen vermindern die Attraktivität als Lebens- und Wirtschaftsstandort mit den entsprechend negativen Wirkungen auf die kommunalen Steuereinnahmen. Hochverschuldete Städte und Gemeinden müssen von den Schulden befreit werden, damit sie zukunftsfähig sein können. Es ist aber auch Ausdruck des Postulats gleichwertiger Lebensverhältnisse.

Was empfehlen Sie?

Kühl: Am wichtigsten sind Altschuldenfonds, die vom Bund und den jeweiligen Ländern finanziell getragen werden und in relativ kurzer Zeit die hoch verschuldeten Kommunen wieder in eine faire „Wettbewerbssituation“ versetzen. Interkommunale Solidarität – also die Hilfe der finanzstarken für die finanzschwachen Kommunen – kann dabei ebenfalls eine Rolle spielen, etwa über eine entsprechende Neujustierung des kommunalen Finanzausgleichs. Hoch verschuldete Kommunen haben ihre schwierige Finanzlage meist nicht selbst verursacht. Die Ursache war oft ein Strukturwandel, zum Beispiel in den Bereichen Kohle und Stahl oder die Schließung von Militärstützpunkten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs.

Ist darüber hinaus Hilfe vom Bund und von den Ländern erforderlich?

Kühl: Ich denke schon. Denn die große Investitionslücke gibt es so nicht beim Bund und bei den Ländern. Ein Blick auf die Nettoinvestitionsquoten und die Anteile der Investitionen am Bruttoinlandsprodukt von Bund, Ländern und Kommunen in den letzten drei Jahrzehnten belegt eindrucksvoll, dass nahezu alle Kommunen ihre Konsolidierungs-verpflichtungen nur erfüllen konnten, indem sie eigentlich notwendige Investitionen unterlassen haben. Unter Effizienz- und Gerechtigkeitsgesichtspunkten wäre es meines Erachtens am sinnvollsten, die Umsatzsteuerverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen zugunsten der Kommunen zu verändern und zwischen den Kommunen nach der Einwohnerzahl zu verteilen.

Erscheint das nicht utopisch angesichts der hohen Ausgaben, die der Bund gerade stemmt – wegen der hohen Ausgaben für den Verteidigungshaushalt, wegen der Entlastungspakete, die für Bürger und Unternehmen geschnürt werden?

Kühl: Es wäre besser gewesen, wenn man das in den fünf Jahren vor Corona angegangen wäre, als Bund und Länder volle Kassen hatten. Es führt aber kein Weg daran vorbei. Zum einen aus Gründen der Gerechtigkeit, eben weil kommunale Schulden oft nicht selbstverschuldet sind. Aber auch aus einem anderen Grund: Es sind insbesondere die Kommunen, die maßgeblich für das Gelingen des gesellschaftlichen Transformationsprozesses sind.

Interview: Sabine Schmidt

Zur Person: Carsten Kühl ist promovierter Volkswirt und Honorarprofessor für Volkswirtschaftslehre und Finanzwissenschaft an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Von 2009 bis 2014 war er Finanzminister von Rheinland-Pfalz. Seit 2018 leitet er das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) in Berlin.

Foto: Difu/Vera Gutofski