Dörfer am Puls der Zeit

Die digitale Transformation kann auch ländliche Regionen wieder zu Zukunftsorten werden lassen. Smarte Technologien bieten softwarebasierte Lösungen und Chancen, um neue Geschäftsmodelle, Strategien und Sicherheitsstandards auf dem Land zu entwickeln.

Eine gute Nachricht: Die Zukunft der ländlichen Regionen rückt in den Fokus! Im Juli 2015 erschien zum Beispiel eine Studie des Bundesinstituts für Bau,- Stadt- und Raumforschung (BBSR) mit dem Titel „Indikatoren zur Nahversorgung“. Die Untersuchung beschäftigt sich mit der Erreichbarkeit von Gütern und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs: Supermarkt, Schule, Apotheke, Hausarzt oder Haltestelle des öffentlichen Nahverkehrs. Laut der Studie ist eine gute Erreichbarkeit oft nicht gegeben. Je kleiner die Städte und Gemeinden, desto größer die Entfernungen. Nach den Untersuchungen hat knapp ein Drittel der Einwohner von Landgemeinden keines der betrachteten Infrastrukturangebote in einer Entfernung von maximal einem Kilometer, wie es sich für 90 Prozent der Großstadtbewohner darstellt.

Zu gleicher Zeit veröffentlichte die Bertelsmann-Stiftung aus dem Datenportal „Wegweiser-Kommune“ eine Bevölkerungsprognose. Die Prognosen zum demografischen Wandel untermauern, dass das Durchschnittsalter in Deutschland steigt und der Pflegebedarf zunimmt. Während die Städte eher wachsen, dünnt der ländliche Raum weiter aus.

Das „Land“ ist offenbar ambivalent. Denn einerseits wird regelmäßig der Abgesang vieler Dörfer angestimmt, andererseits verkaufen sich zusehends Zeitschriften, die mit der Lust der Städter aufs Land spielen: Bilder von lachenden Kindern und grünen Wiesen – schlicht und einfach bessere Lebensqualität ohne Stress und Verkehr.

Vor diesem Hintergrund interessant: 56 Millionen Deutsche (75 Prozent) leben in Städten mit weniger als 100.000 Einwohnern. In Flächenländern wie Rheinland-Pfalz lebt sogar die Hälfte der Bevölkerung in Gemeinden mit weniger als 7000 Einwohnern. Der ländliche Raum ist also nicht nur Sehnsuchtsort gestresster Stadtromantiker, er ist ebenso wichtiger Markt und Wirtschaftsstandort. 60 Prozent aller Betriebe findet man in den ländlichen Regionen Deutschlands.

Die Attraktivität der ländlichen Regionen zu erhalten, ist somit ein integraler Bestandteil jeder zukunftsgerichteten Strategie der Raumentwicklung. Hier kann die Digitalisierung entscheidende Fortschritte bringen, denn unser Leben, Arbeit, Bildung und Freizeit wird immer mehr vom Internet bestimmt.

Versorgung dünn besiedelter Flächen

Die besondere Herausforderung sowohl bei der Gewährleistung öffentlicher Dienstleistungen und Infrastrukturen als auch bei der Etablierung innovativer Geschäftsmodelle von Unternehmen liegt in der dünnen Besiedelung der ländlichen Regionen. Im Vergleich zu Städten müssen sehr große Flächen versorgt werden, um vergleichsweise wenige Bürger erreichen zu können. Dies bedeutet für die Bereiche Mobilität und Logistik sowie für die medizinische Versorgung eine gewaltige Aufgabe.

Ein wichtiger Bestandteil, um diese zu bewältigen, liegt in deren Vernetzung. Sogenannte Smart Ecosystems stellen deshalb die nächste Evolutionsstufe von IT-Systemen dar. Denn dringender Handlungsbedarf besteht bei der Kombination von Anwendungsbereichen, etwa in den bereichsübergreifenden Wertschöpfungsnetzen der Industrie 4.0, im Zusammenspiel unterschiedlicher Wirtschaftsbereiche (Logistik, Handel, Energieversorgung) oder in der übergreifenden Nutzung von Daten und Diensten im Alltag (Smart Home, e-Commerce, e-Health).

Smart Ecosystems „brechen isolierte Silos auf“ und verschmelzen zu einem einzigen Software-Ecosystem, in dem Einzelsysteme über das Internet der Dinge, Dienste und Daten vernetzt sind und organisationsübergreifende innovative Lösungen entstehen können. Sie verbinden somit auch Herausforderungen verschiedener Bereiche: Informationssysteme, eingebettete Systeme oder mobile Apps.

Denn gerade auf dem Land werden sich wirtschaftlich tragfähige Lösungen nur durch die effiziente und gemeinsame Nutzung von Ressourcen über die Grenzen etablierter „Silos“ hinweg erreichen lassen. Das gilt auch in der Logistik, wenn Pakete nicht mehr nur über den Paketdienst transportiert werden, sondern eine Mitfahrgelegenheit im Personennahverkehr und sogar in privaten Fahrzeugen erhalten.

Bürgerbus, Privatauto und öffentliche Verkehrsmittel

Dazu müssen unterschiedlichste Systeme miteinander kommunizieren, vom intelligenten Adressaufkleber und Lesegeräten im Fahrzeug über Smartphone-Apps bis hin zur übergreifenden Optimierung im Zusammenspiel von Logistiksystemen und Personentransport unterschiedlichster Anbieter. Dadurch werden die Ressourcen Fahrzeug und Fahrer effizient genutzt, sodass sich trotz der geringen Kundendichte in ländlichen Räumen wirtschaftlich interessante Geschäftsmodelle entwickeln lassen. Eine per App koordinierte Sharing-Mobility-Plattform verbindet Bürgerbus, Privatauto und öffentliche Verkehrsmittel, errechnet die beste Verbindung und liefert diese zum gewünschten Zeitpunkt.

Aber auch beim Wohnen im Alter bietet uns die Digitalisierung Chancen: So hat die Landesregierung Rheinland-Pfalz das Modellprojekt „SUSI TD“ unterstützt, bei dem die Wohnungen älterer Menschen mit Sensoren ausgestattet werden, die Unregelmäßigkeiten registrieren und an einen Betreuer melden. So wird eine echte Alternative zum stationären, betreuten Wohnen geschaffen, und ältere Menschen können länger in ihren vier Wänden bleiben.

Ein weiterer erfolgreicher Ansatz ist das Projekt „E.He.R.“ in der Westpfalz, das sich an Herzpatienten richtet. Diese müssen nicht mehr lange Wege zu Vorsorgeuntersuchungen auf sich nehmen. Stattdessen werden ihre Daten direkt an das Telemedizinzentrum geleitet, das die Erhebungen auswertet und bei Abweichungen Alarm auslöst, der vom Personal aufgenommen wird, die den Patienten und den behandelnde Arzt konsultieren und zusammenbringen.

Die meisten Kommunen wie auch Wirtschaftsunternehmen entdecken erst jetzt, dass sich Märkte in der Digitalisierung auch jenseits der Großstädte formieren können. Im Programm „Smart Rural Areas“ des Fraunhofer-Instituts für Experimentelles Software Engineering (IESE) geht es darum, IT als Entscheidungsfaktor zu begreifen, um dem ländlichen Raum eine Perspektive zu geben. Das Projekt „Digitale Dörfer“ zielt als Teil dieser Strategie darauf ab, eine Kombination aus realer und virtueller Testregion aufzubauen.

Mario Trapp / Gerald Swarat

Die Autoren
Dr.-Ing. Mario Trapp leitet den Forschungsbereich Embedded Systems am Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering (IESE) in Kaiserslautern, Gerald Swarat ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer IESE

Links: Fraunhofer-IESE-Projekt „Digitale Dörfer“ mit dem Land Rheinland-Pfalz“ – Forschungs-Initiative „Smart Rural Areas“