Die Digitalisierung im Bildungsbereich bedeutet mehr, als Schulen und Universitäten mit Tablets oder Smartboards auszustatten. Digitales Lernen kann eine Lösung für viele pädagogische Herausforderungen sein. Wie der internationale Vergleich zeigt, ist in Deutschland vor allem Mut zur Innovation gefragt.
Die Zukunft ist digital. Weltweit haben die Menschen längst für sich entschieden: Digitalisierung eröffnet neue Chancen. Das belegt ihr Konsum- und Kommunikationsverhalten jeden Tag aufs Neue. Entsprechend machen Internet und Big Data auch vor dem Bildungssystem nicht halt. Bildung verändert sich durch die Digitalisierung so tiefgreifend wie zuvor nur durch den Buchdruck oder die Schulpflicht. Zugangshürden werden abgebaut, Lerninhalte und -tempo individualisiert.
Wilhelm von Humboldt, Bildungsreformer des 19. Jahrhunderts, wollte „Bildung für alle“ als Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben und schuf das allgemeine Schulwesen. Sein lange unerfülltes Ideal: Wer gut ist, kommt weiter, egal, wo er herkommt. Diese Vorstellung kann im digitalen Zeitalter durch personalisiertes Lernen neue Schubkraft entfalten.
Software erfasst individuellen Leistungsstand und gibt entsprechende Übungen aus
In Uruguay hat die Regierung an allen öffentlichen Schulen für den Mathematikunterricht eine interaktive Lernsoftware eingeführt. Diese erfasst den individuellen Leistungsstand des Schülers und teilt ihm passende Übungen zu. Je nach Lernfortschritt werden die Lektionen anspruchsvoller, bei Problemen erklärt das System die Fehler. So entstehen persönliche Lernpfade. Der Schüler passt sich nicht dem Lehrbuch an, sondern das Programm dem Schüler.
Bettermarks heißt die Software, die Unter- und Überforderung, Langeweile und Lernstress reduzieren will. So gewinnen Lehrer Zeit fürs Wesentliche. Sie unterrichten Schüler statt Inhalte, können helfen, wo es nötig ist.
Das Mathe-Lernprogramm wurde in Berlin entwickelt, wird hierzulande aber erst von etwa 400 Schulen eingesetzt. Die Erkenntnis, dass digitales Lernen keine zusätzliche Belastung sein muss, sondern Teil der Lösung für viele pädagogische Herausforderungen sein kann, hat sich noch nicht vollständig durchgesetzt. Dabei geht es um mehr, als Bildungsinstitutionen mit Tablets auszustatten.
An der David-Boody-Schule im New Yorker Stadtteil Brooklyn etwa bekommen 80 Prozent der Schüler ein kostenloses Mittagessen; sie kommen aus sozial schwachen Familien, haben oft einen Migrationshintergrund und benötigen beim Lernen viel Unterstützung. Sie alle erhalten einen persönlich zugeschnittenen Unterricht.
New Classrooms heißt das Konzept, das auf digitalisierte Lerneinheiten statt Frontalunterricht setzt, um jeden bei seinem Wissensniveau abzuholen. In einem riesigen Raum lernen etwa 90 Schüler an wechselnden Stationen. Die einen schauen Videos, andere nutzen Lernsoftware, weitere arbeiten in Gruppen.
Deutsche Erfolgsgeschichten wie das Berliner Start-up Sofatutor, das online mehr als 13 000 Nachhilfevideos zu allen Schulfächern bereit hält, zeigen, dass digitales Lernen auch bei uns angekommen ist. Schulen, wie etwa die Kasseler Oskar-von-Miller-Berufsschule, setzen auf eine breite digitale Unterstützung. Sie orientieren sich an ähnlichen Ideen wie New Classrooms. Die Schüler arbeiten motivierter und eigenständiger mit.
In virtuellen Bildungswelten lernen Azubis Maschinen kennen
In der Berufsbildung wird mit virtuellen Lernwelten experimentiert. Das Projekt Glassrooms bietet eine Umgebung, in der virtuell Landmaschinen repariert werden können. So lernen Auszubildende die notwendigen Handgriffe, ohne dass teure Maschinen angeschafft werden müssen. Ähnliche Beispiele kommen aus der Druckindustrie: Auszubildende können an Tablets in laufende Druckmaschinen schauen und so etwas über deren Aufbau lernen.
Natürlich birgt digitale Bildung auch Risiken. Der durchleuchtete Mensch, über dessen Bildungsweg Computeralgorithmen entscheiden und der zum Objekt von Wahrscheinlichkeiten wird – das klingt mehr nach George Orwells Überwachungsstaat als nach Humboldts Bildungsideal.
Gerade im Bewusstsein dieser Risiken sind wir alle gefordert, den digitalen Wandel aktiv zu gestalten. Denn für die digitale Revolution gibt es keinen Stoppknopf. Damit wir die Daten beherrschen, statt von ihnen beherrscht zu werden, muss der rechtliche Rahmen für mehr Datensouveränität gesetzt werden.
Um Schüler digitalkompetent und datensouverän zu machen, braucht es eine Qualifizierungsoffensive für Lehrkräfte – und klare Regeln, die Datenmissbrauch vermeiden. Vor allem braucht es Mut zur Innovation, damit Deutschland den Wandel aktiv gestaltet.
Ralph Müller-Eiselt
Der Autor
Ralph Müller-Eiselt ist Senior Expert im Bereich Internationale Foren und Trends bei der Bertelsmann-Stiftung in Gütersloh
Info: „Die digitale Bildungsrevolution“, Jörg Dräger, Ralph Müller-Eiselt, Verlag DVA, München, 2015, 240 S., 17,99 Euro (ISBN-13: 978-3421047090)
Das Buch beleuchtet, wie die vernetzte Welt Bildungssystem und Gesellschaft verändern wird und fordert, die Bildungsrevolution zu gestalten.