Grünflächen sind in Andernach nicht nur zum Anschauen da. Seit Jahren werden im öffentlichen Raum vielerlei Gemüse und Obst angebaut. Das Konzept der Essbaren Stadt macht Biodiversität erlebbar und fördert das Miteinander der Menschen. Die Stadt ist mit ihrem Projekt Vorreiter eines weltweiten Trends.
Andernach (30.000 Einwohner, Rheinland-Pfalz) möchte die Nachhaltigkeitsziele der UN unmittelbar in der eigenen Stadt umsetzen. Die Kampagne Essbare Stadt Andernach integriert Aspekte der Nachhaltigkeit, der Biodiversität, des Klimaschutzes und der urbanen Landwirtschaft.
Vor allem öffentliche Grünanlagen stehen hierbei im Mittelpunkt. Diese stehen eigentlich jedermann zur Verfügung, werden aber nur zu oft als Fläche der Stadt oder der Gemeinde gesehen – und nicht als Flächen der Bürger. Die Stadt wiederum sieht ihre Aufgabe darin, mit möglichst minimalem ökonomischen Aufwand halbwegs „gepflegte“ Flächen zu präsentieren. Allzu oft führt das zu leblosen, pflegeleichten und artenarmen Grünanlagen.
Im Jahr 2010 begann die Stadt Andernach mit der Pflanzung von 101 Tomatenpflanzen. Um im „Jahr der Biodiversität“ die Gefahr des Verlusts der genetischen Vielfalt bei traditionellen Nutzpflanzen zu demonstrieren, wurde unmittelbar an einer alten Stadtmauer ein solches Tomatensortenprojekt angelegt. Das Ziel ist, auf kleinen Flächen Artenvielfalt zu demonstrieren. Hier wird Biodiversität im wahrsten Sinne des Wortes „begreifbar“. Die Pflanzenvielfalt kann man anfassen, riechen, fühlen und schmecken.
Die Akzeptanz dieses Projektes wurde dadurch gesteigert, dass alle Bürger in diesen entstandenen Bürgergärten eigenverantwortlich ernten dürfen. Neben den Tomaten wurden weitere, möglichst attraktive Gemüsesorten wie zum Beispiel Mangold angebaut, Obstsorten (Beerenobst, Spaliergehölze) und Küchenkräuter. Statt „Betreten verboten“ heißt es im öffentlichen Raum nun „Pflücken erlaubt“.
Der bewusste Umgang des Bürgers mit dem städtischen Grün wird positiv bewertet. Sehr spannend war die Entwicklung zu beobachten, als das Gemüse jeweils reif wurde. Nach anfänglichem Zögern, ob nun wirklich Pflücken erlaubt sei, stellte sich ein selbstregulierendes Erntesystem ein. An den Flächen wurde diskutiert und Rezepte wurden ausgetauscht.
Die Gemüseflächen entwickelten sich zu Begegnungsstätten von Menschen verschiedenster Altersklassen und Kulturen. Das Projekt erwies sich als ausgesprochen kommunikativ. Vor allem für Kinder und Jugendliche ist es wichtig, die Pflanzen und ihre Früchte überhaupt wieder erlebbar zu machen, da viele völlig den Bezug hierzu verloren haben.
Idee entwickelt sich zur Institution
Was als Experiment für ein Jahr startete, ist zu einer Institution geworden. Im Konzept der entstandenen Essbaren Stadt gilt es, diese als „Lebens“-mittelpunkt wieder mit „Lebens“-mitteln erlebbar zu machen. Mit dieser kreativen Umsetzung des Modells einer urbanen Landwirtschaft verbunden ist der neue Ansatz, den öffentlichen Grünräumen zumindest teilweise neue Funktionen zukommen zu lassen.
Anfänglich war das Umdenken hinsichtlich des kommunalen Grüns mit vielen Bedenken und Vorbehalten behaftet. Insbesondere zu Beginn der Kampagne wurde in der Stadt auch intensiv die Gefahr des Vandalismus diskutiert. Das hatte den fruchtbaren Aspekt, dass Vandalismus und die hiermit verbundenen Kosten für die Allgemeinheit zunehmend als Probleme öffentlich wahrgenommen und in der Politik und Presse aufgegriffen wurden.
Letztlich blieb der befürchtete Vandalismus weitestgehend aus, und die Bedenken konnten aus dem Weg geräumt werden. Es hat sich in diesem Fall gezeigt, dass mit der Wahrnehmung die Verantwortlichkeit der Bürgerschaft wächst, frei nach dem Motto: Stelle dem Bürger eine hochwertige Anlage zur Verfügung, und er geht wertschätzend damit um. Die Erfahrungen der Stadt Andernach zeigen, dass nicht alleine solche Bedenken oder auch der anvisierte Kostenrahmen ausschlaggebend sind, sondern die Kreativität und der Mut der lokalen Akteure, neue Wege zu gehen.
Gepflegt werden die Flächen durch die örtliche Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft Perspektive gGmbH. Hierbei arbeiteten Langzeitarbeitslose unter Anleitung ausgebildeter Gärtner. Zunehmend sollen aber auch Bürger mit in die Verantwortung genommen werden. Basierend auf bürgerschaftlichem Engagement lassen sich Vereine, Senioren, Schüler und weitere Interessenten auch in die Pflege „ihrer“ Flächen einbinden.
Seit 2018 fördert nun auch die Europäische Kommission mit dem Projekt „EdiCitNet“ die Essbare Stadt Andernach. Das Ziel ist, die essbaren Städte besser miteinander zu vernetzen. Eine Schlüsselrolle spielen dabei die sogenannten „Front-Runner-Städte“ Rotterdam, Oslo, Havanna und Andernach: Unter anderem werden in ausgewählten Gebieten dieser Städte Pilotprojekte gestartet. Wissenschaftliche Erkenntnisse über die Nutzung des Stadtraums für die Lebensmittelerzeugung sollen unter Realbedingungen geprüft und in der zweiten Projektphase in weitere Städte (Montevideo in Uruguay, Lomé in Togo, Letchworth in Großbritannien u. a.) übertragen werden. Das EU-Projekt wird die wesentlichen Vorteile nutzen, die essbare Städte heute auf lokaler Ebene erzielen, und die Idee in Europa und weltweit verbreiten. Andernach ist hierbei als Vorreiter maßgeblich beteiligt.
Lutz Kosack
Der Autor
Dr. Lutz Kosack ist Landespfleger im Amt für Stadtplanung und Bauverwaltung von Andernach