Tief im Westen

Auf dem Weg in die Zukunft: Visualisierung des umgestalteten Industriegeländes. Foto: Presseamt Stadt Bochum

Wie geht es weiter, wenn ein großes Industrieunternehmen die Stadt verlässt? Bochum hat mit dem „MARK 51°7“ den Opel-Weggang mehr als kompensiert.

Bochum. Die schwere Planierraupe schiebt gewaltige Erdmassen vor sich her, bis die Fläche unter ihren Ketten eben ist. Der Lärm macht das Filmen des zweiköpfigen Kamerateams fast unmöglich. Es ist aus Polen angereist, um sich ein Bild vor Ort in Bochum zu machen. Denn „MARK 51°7“ könnte Vorbild sein für den anstehenden Strukturwandel in Polens Kohlerevieren. Innerhalb von gerade einmal sechs Jahren ist auf dem 70 Hektar großen Gelände im Herzen von Bochum etwas völlig Neues entstanden – nach über 50 Jahren Automobilproduktion. Die Konversion der Autofabrik zu einem modernen Technologie-, Dienstleistungs- und Gewerbestandort ist beispielhaft für eine Stadt, in der in den letzten Jahrzehnten viele Herausforderungen zu stemmen waren.

Rückblick, Juni 2012: „Bochum ohne Opel, geht das?“ titelt die Wochenzeitung „Die Zeit“. Ein Dreivierteljahr später ist es Gewissheit: Der Autobauer verkündet offiziell die Schließung seines Werks. Ende 2014 sollen in Bochum die letzten Autos vom Band laufen. Die Nachricht schlägt in der Stadt ein wie eine Bombe. Zu frisch sind die Wunden, die der Nokia-Weggang 2008 gerissen hat. Damals verloren über 3000 Menschen ihren Job. Bei Opel in Bochum stehen mindestens genauso viele Arbeitsplätze auf dem Spiel.

ein Stück Wehmut

Das Kamerateam aus Polen hat sich vor dem ehemaligen Opel-Verwaltungsgebäude aufgebaut, einem schlichten Zweckbau aus den 1960er-Jahren. Dort, wo früher in vier großen Lettern der Name des Autobauers stand, soll bald der Schriftzug O-WERK prangen. Eine Reminiszenz auf das Alte. Doch der Schriftzug kündet von etwas völlig Neuem. Im Gebäude ist mittlerweile die Ruhr-Universität Bochum eingezogen. Wissenschaftler, Dozenten und Studierende der größten Universität des Ruhrgebietes arbeiten hier gemeinsam am World Factory Startup Center. 20 Millionen Euro hat sich die Uni dafür vom Land sichern können – um die Anzahl der Ausgründungen aus der Hochschule zu steigern und den Wissenstransfer in die Wirtschaft zu fördern.

Als die Nachrichtenteams von TV-Sendern aus ganz Deutschland am 5. Dezember 2014 ihre Kameras vor dem Bochumer Opel-Werk aufbauen, filmen sie Werksangehörige, die mit gesenktem Haupt „ihre“ Autofabrik verlassen.

„Das war für viele ein herber Schlag“, sagt Michael Hey. „Für uns war es aber der Startschuss für etwas völlig Neues.” Hey ist Mitarbeiter der Bochum Perspektive 2022 GmbH und Opelaner. Lange Jahre hat er im Werk gearbeitet. Seit 2014 ist er bei der Bochum Perspektive, einem bislang einzigartigen Joint Venture – gegründet, um dem Opel-Standort Bochum eine Zukunft zu geben. Die Stadt und die Opel Automobile GmbH halten jeweils die Hälfte der Anteile an der GmbH, die schon vor der Werksschließung auf den Weg gebracht wurde. Dank Förderzusagen vom Land NRW in mittlerer zweistelliger Millionenhöhe machte sich die „Perspektive“ an die Arbeit, dem Automobilstandort ein neues Gesicht zu geben. „Die ersten Skizzen haben wir auf ein paar Blatt Papier gezeichnet“, erinnert sich Hey.

Juli 2015, die Hallen des ehemaligen Opel-Werks sind leer. Jetzt übernimmt die Bochum Perspektive das Kommando über die riesige Fläche im Bochumer Osten. Schon im Frühjahr 2016 rollen die Bagger an, knabbern sich durch die Hallen. Der Schutt landet in Brechern und wird klein gemahlen. Denn das ehemalige Baumaterial wird auf der Fläche dringend benötigt – zur Modellierung des Geländes mit seinem starken Gefälle.

Die Kamera des polnischen TV-Senders schwenkt auf eine riesige graue Halle. Hier hat der Eisenbahn-Zulieferer Faiveley seinen neuen Verwaltungs- und Produktionsbetrieb hochgezogen. In Kürze sollen hier die ersten Bremsen für Waggons gebaut werden. Produktion hat auf „MARK 51°7“ wieder eine Zukunft. „Auch die produzierenden Betriebe profitieren von der Nähe zu Wissenschaft und Forschung“, sagt Sven Frohwein, Pressesprecher der Bochum Perspektive. „Nach Kohle und Stahl hat Bochum einen neuen Rohstoff – und der ist das Wissen. Auf ‚MARK 51°7´ lässt sich das besonders gut besichtigen.“

Erste Betriebe siedeln sich an

Februar 2016, kleiner Ratssaal des Bochumer Rathauses: Oberbürgermeister Thomas Eiskirch hat geladen. Good News aus der Stadt: Der Logistik-Riese Deutsche Post DHL will sich in Bochum niederlassen und bis zu 600 neue Jobs schaffen, auf dem ehemaligen Opel-Gelände. Wirtschaftsminister Garrelt Duin ist gekommen, um den historischen Moment mitzufeiern. „Das ist eine gute Nachricht für Bochum“, sagt er. „Das Paketzentrum wird als Ankerbetrieb weitere Ansiedlungen nach sich ziehen. Das ist erst der Anfang.“ Duin sollte Recht behalten.

Mittlerweile haben sich mehr als ein Dutzend Firmen für den neuen Standort entschieden. Der Bosch-Konzern will bis zu 2000 Arbeitsplätze auf der Fläche schaffen und seine IT-Security fürs Auto in Bochum konzentrieren. Der VW-Konzern gibt seiner Tochter Volkswagen Infotainment die Möglichkeit, hier weiter zu wachsen. In einem eigenen Prüfzentrum sollen neue Entwicklungen auf Herz und Nieren getestet werden, bevor sie in die Modelle des weltgrößten Autobauers wandern. Im Technologiepark soll ein Max-Planck-Institut für IT-Security entstehen. Insgesamt bestehen Investitionszusagen zur Schaffung von 6000 Arbeitsplätzen, doppelt so viele wie bei Opel.

Für Ralf Meyer ist das „der Beleg für die hervorragende Arbeit, die Bochum und seine Partner in den vergangenen sechs Jahren geleistet haben“. Meyer ist Geschäftsführer der Bochum Wirtschaftsentwicklung und ständiges Mitglied im Verwaltungsvorstand. Nach seinem Amtsantritt Ende 2014 krempelte er das ehemalige Amt für Wirtschaftsförderung um. „Wir setzen auf die Grundsätze erfolgreicher Dienstleistungsunternehmen. Wir wollen digital arbeiten und unseren Partnern zu schnellen Entscheidungen verhelfen.” Das half dabei, „MARK 51°7“ in Rekordgeschwindigkeit zu entwickeln und Probleme bei Planung und Umsetzung schnell und effizient anzugehen. „Dieses Projekt ist in Rekordzeit gelungen, weil Stadt, Land und unser Partner Opel an einem Strang gezogen haben. Und weil wir vor allem im Hochschulbereich viele Investoren auf den Standort Bochum aufmerksam machen konnten“, zeigt sich Meyer zufrieden.

Das polnische TV-Team packt seine Kameras ein. „Wahnsinn, was sie hier in der Kürze der Zeit geschaffen haben. Hoffentlich gelingt uns das auch in Polen“, entfährt es dem Moderator.

Red.

ehemaliges Opel-Werk im Jahr 2014. Foto: Presseamt Stadt Bochum