Zukunft in der Heimat schaffen

Wie ist es um die Dörfer in Deutschland bestellt? Wichtiger als eine möglichst präzise Typisierung ist die Entwicklung von individuellen Strategien, mit denen eine Landgemeinde ihren Herausforderungen begegnen will. Demografischer Wandel, Haushaltslage, Digitalisierung sind einige der Stichworte.

Ebenso wenig wie es die deutsche Heimat gibt, existiert das Dorf oder der ländliche Raum. Vielmehr sind es gerade die geografische und kulturelle Vielfalt, die den besonderen Reiz der deutschen Landschaften ausmacht: Meer und Mittelgebirge, Almwiesen und Autobahnen, Schlösser und Skihütten, Idyllenfachwerk und Industriekultur, Kleinstädte und Coworking-Spaces. Doch scheint insbesondere die Schönheit ländlicher Räume eher in Urlaub und Freizeit auf Interesse zu stoßen, oder der Deutsche träumt sich mit Hochglanzmagazinen à la „Landlust“ ins ländliche Idyll.

Vor allem junge Menschen zieht es in die Städte und Ballungsgebiete. Unlängst musste das Berlin-Institut in seiner neuen Studie zur Region Westfalen feststellen, dass selbst im prosperierenden Münsterland der Ruf der Städte stärker ist als das lokale Arbeitsplatzangebot. Nahezu zeitgleich gab die Bertelsmann-Stiftung in ihrer jüngsten Studie „Trend Reurbanisierung?“ Teil-Entwarnung: Entgegen der verbreiteten Auffassung, dass sich der ländliche Raum entleere, zeichne sich auch dort zumindest für einige Kommunen ein Zuwachs ab. So liege zwar das Stadtleben weiterhin im Trend, aber eben nicht nur in den hippen Großstädten Berlin, Hamburg oder München. Vielmehr sind es auch kleinere Städte wie etwa Güstrow in Mecklenburg-Vorpommern oder Aurich im Herzen Ostrieslands, die Zuzug verzeichnen können. Sind es doch gerade die Großstadtflüchtlinge, die aufgrund überhöhter Mieten und dem Wunsch nach einem Eigenheim die Flucht aufs Land antreten.

Flögen wir über Deutschland, so würden wir vor allem eine zunehmende Polarisierung zwischen demografisch wachsenden und schrumpfenden Räumen wahrnehmen. Vor allem die ländlichen Räume verlieren und die Städte gewinnen Einwohner. Verlören wir jedoch an Flughöhe, dann würde das Bild sehr viel unschärfer: So schrumpfen nicht alle Landgemeinden, sondern insbesondere die peripheren, weitab von Agglomerationen gelegenen Dörfer.

Doch es geht auch nicht allen Städten „gold“. Besonders das Ruhrgebiet ist stark von Strukturwandel und demografischen Verschiebungen betroffen. Würden wir nun auf unserem Flug über Deutschland die Linse noch schärfer stellen, dann fiele auf, dass selbst in entlegenen ländlichen Regionen „robuste“ Gemeinden zu finden sind, währenddessen die Nachbarorte mit galoppierender Alterung und Abwanderung zu kämpfen haben.

Was macht denn eine „robuste“ Gemeinde in einer schrumpfenden Region aus? Sicher gibt es Indikatoren, die auf eine eher erfolgreiche Entwicklung hindeuten: ausreichende Arbeitsplätze, gute Infrastruktur, die Nähe zu einer (Groß-)Stadt, ein aktives Gemeindeleben. Doch letztlich gibt es kein Erfolgsrezept (mehr), das einmal angerührt, beliebig oft kopiert werden kann. Was in der Pfalz passt, passt in Mecklenburg noch lange nicht.

Passgenaue Lösungen entwickeln

Demografischer Wandel, Strukturwandel, Finanzlage der kommunalen Haushalte, Änderung der Einstellung zu Arbeit und Freizeit sowie Digitalisierung haben die Rahmenbedingungen für ländliche Entwicklung grundlegend verändert. Dies ruft die Kommunalpolitik dazu auf, passgenaue Lösungen für ihre Gemeinde zu finden. Das ist umso dringlicher, wenn man bedenkt, dass Schrumpfung und Fachkräftemangel für viele Gemeinden in naher Zukunft virulent wird. Und die rasant voranschreitende Alterung betrifft alle Kommunen.

Defensives Ignorieren hilft nicht. Die Frage nach Leerstand, lückenhafter Grundversorgung, Verfall der Bodenpreise oder Pflegenotstand wird sich nicht von selbst beantworten. Politisch lassen sich diese Botschaften schlecht verkaufen. Wie kann also ein Prozess angestoßen werden, der nicht in der Rhetorik des Verlustes hängenbleibt, sondern am Ende Lösungen anbietet, mit denen alle Einwohner leben können?

Zwei Projekte – „Das aktive und soziale Dorf“ (2006) und „Das Soziale-Orte-Konzept“ (2017) – geben entscheidende Hinweise darauf, wie lebendige Dörfer auch unter weniger günstigen Bedingungen gestaltet werden können:

  • Prioritäten setzen („Was brauchen wir wirklich?“),

  • Soziale Orte der Kommunikation und Vernetzung schaffen, gemeinsam mit möglichst vielen Akteuren, aus allen Sektoren wie Verwaltung, Zivilgesellschaft, Privatwirtschaft,

  • Vision entwickeln („Wo wollen wir in fünf Jahren stehen?“),

  • Prozesse einleiten, nicht nur Einzelprojekte abarbeiten.

Dass es sich lohnt, diesen sicherlich oft schweren Zukunftsprozess mit allen Akteuren in der Gemeinde anzutreten, können wir mittlerweile überall im ländlichen Raum beobachten. Hunderte Bürgermeister haben in den vergangenen 15 Jahren mutig Veränderungsprozesse begleitet, oft auch eingeleitet und multifunktionale Dorfläden gemeinsam mit Bürgern eingerichtet, Plattenbauten zu Pflegheimen umgebaut oder Energiegenossenschaften gegründet. Dies ist gelebte Demokratie, die sich den zukünftigen Herausforderungen stellt, ohne einfache Lösungen für komplizierte Fragen anzubieten. Im besten Fall schafft dies Zukunft und Heimat.

Claudia Neu

Die Autorin
Prof. Dr. Claudia Neu ist Inhaberin des Lehrstuhls für ländliche Soziologie an den Universitäten Göttingen und Kassel, sie forscht vor allem zu den Themen Demografischer Wandel, Daseinsvorsorge und Zivilgesellschaft