Die Städte und Gemeinden stehen vor sieben großen Herausforderungen. Uwe Brandl, Erster Bürgermeister im bayerischen Abensberg und Präsident des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, benennt sie im Interview mit unserer Zeitschrift und skizziert die Kommune der Zukunft.
Herr Bürgermeister Brandl, wie stellen Sie sich den Entwurf der Kommune der Zukunft vor? Was wird die Stadt, was die Gemeinde im Jahr 2040, 2050 charakterisieren?
Brandl: Die Kommune der Zukunft wird durch vielfältige digitale Dienstleistungs- und Auskunftsplattformen geprägt sein. Es werden Daten laufen, nicht mehr die Bürger. Dazu waren der Aufbau eines flächendeckenden Gigabitnetzes und auch bundesweite einheitliche Standards für Administrationssoftware und Datenportale notwendig. Der Datenschutz wurde wegen des erheblichen Veränderungsdrucks der Anwender deutlich reduziert um E-Government überhaupt möglich zu machen. Feedback-Systeme ermöglichen der Politik, in gewissem Umfang auch Stimmungsbilder der Bürger zu wichtigen Themen in ihre Entscheidungen einzubeziehen. Bots bereiten elektronische Verwaltungsvorgänge wie Passverlängerungen, Kfz-Zulassungen oder Steuererklärungen für den Bürger vor und machen das Leben auch für die Verwaltungen leichter. Autonome Fahrsysteme mit moderner Antriebstechnik und Air Taxis haben den Spagat zwischen Massenverkehr, individuellem Mobilitätsbedürfnis und Umweltschutz geschafft.
Klingt spannend. Wie geht es in 20, 30 Jahren dem „flachen Land“?
Brandl: Die Digitalisierung hat neue Wege der Wertschöpfung auch in den ländlichen Räumen eröffnet. Der Arbeitsplatz zu Hause sorgt für die gewünschte Work-Life-Balance und reduziert das Pendleraufkommen dramatisch. Der Rural Lifestyle konkurriert erfolgreich mit dem Urban Lifestyle. Die Bildungssysteme sind durchgehend digitalisiert. Webinare, Online-Tutorials und moderner Präsenzunterricht bereiten die Future Generation der Bundesrepublik optimal auf die Anforderungen der postdigitalen Revolution vor und sichern Wohlstand und weiteres Wachstum. Deutschland und Europa sind vor dem Hintergrund des Klimawandels und fortdauernder Konflikte in anderen Weltregionen sowie wegen ihrer Innovationskraft beliebte Zuzugsregion. Europa hat einheitliche Regeln für Zuwanderung und Asyl geschaffen, um eine soziale und gesellschaftspolitische Überforderung der Kommunen zu vermeiden.
In welchen kommunalen Handlungsfeldern werden heute von den Verantwortlichen in Politik und Verwaltung Entwicklungen eingeleitet und konsequent strategisch gestaltet werden müssen, um eine Gemeinde „zukunftsfest“ zu machen?
Brandl: Aus dem oben Gesagten ergeben sich die Main Challenges, die hauptsächlichen Herausforderungen. Erstens: Gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Kommunen zu schaffen ist die Aufgabe aller politisch Verantwortlichen in Bund, Ländern und Kommunen. Zweitens: Die Digitalisierung stellt eine enorme Chance dar, der notwendige digitale Umbau betrifft die gesamte Gesellschaft. Drittens: Dieser Umbau erfordert ein systemisches, ganzheitliches Denken fern der gewohnten analogen Strukturen. Viertens: Er kann nur konzertiert, konzentriert und zeitnah gelingen. Fünftens: Alle Räume Deutschlands müssen in ihrer Individualität gefördert werden, strukturelle Defizite müssen ordnungspolitisch abgebaut werden. Sechstens: Bildung, Ausbildung, Betreuung und Kultur sind harte Standortfaktoren. Siebtens: Bezahlbarer Wohnraum und Zukunftsperspektiven sind die Schlüssel, um volkswirtschaftlich alle Ressourcen vernünftig nutzen zu können.
Ohne die Städte ist kein Staat zu machen, sagte 1953 Deutschlands erster Bundespräsident Theodor Heuss und hob damit die besondere Bedeutung der kommunalen Ebene für das nationale Gemeinwesen hervor. Welchen Stellenwert hat die Idee der kommunalen Selbstverwaltung in Zeiten wachsender Herausforderungen auf gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene?
Brandl: Der Vergleich mit anderen kommunalen Systemen innerhalb Europas zeigt deutlich: Wirtschaftskrisen werden von selbst verwalteten Einheiten besser abgefedert als von Zentraladministrationen. Die gesellschaftliche Bindung der Bevölkerung an eine Kommune ist dort intensiver, wo die Bevölkerung durch ihre Repräsentanten politische Weichenstellungen selbst verantwortet. Die künftigen Herausforderungen, insbesondere der notwendige Umbau unserer Gesellschaft, werden besser und schneller mit leistungsfähigen, selbst verwalteten Kommunen und dem damit verbundenen, gesunden Streben um die besseren Konzepte zu bewältigen sein.
Erfahren die Kommunen die dieser Rolle angemessene Unterstützung durch den Staat?
Brandl: Die Rahmenbedingungen sind aktuell nicht optimal. Es gibt eklatante Disparitäten zwischen armen und reichen Standorten, zwischen großen und kleinen Einheiten. Bund und Länder sind gefordert, für angemessene Finanzausstattung zu sorgen und verlässliche Rahmenbedingungen und Lebenschancen für die Menschen in allen Räumen zu schaffen. Wesentlich ist auch, dass es künftig unterbleibt, die Kommunen mit Standards oder Leistungsgesetzen zu überziehen und dabei nicht die gesamte Finanzverantwortung zu übernehmen. Ein Anspruch auf Ganztagesbetreuung, ständig neue soziale Standards wie zum Beispiel Schulbegleiter mögen politisch gewollt sein. Der Fairness ist es geschuldet, dann aber die Kommunen nicht auf den Kosten für die Infrastruktur, das Personal und den Betrieb sitzen zu lassen.
Auf der einen Seite also „Produktion“ sozialer Standards durch den Bund auf dem Rücken der Kommunen, auf der anderen Seite „Friktion“ bei einem zentralen, für die Zukunft der Kommunen wichtigen Projekt, dem Ausbau von Gigabitnetzen…
Brandl: Bei der Digitalisierung könnte der Bund längst die meisten Ausbauhemmnisse beseitigt haben. Er müsste nur erklären, dass Breitbandversorgung als Bestandteil der Daseinsvorsorge Grundversorgung ist, auf die jeder Bürger einen Anspruch hat.
Komplexe Herausforderungen, wie sie die kommunale Ebene vor sich sieht, werden künftig wohl nicht mehr zu bewältigen sein, wenn Lösungsideen nur von wenigen kommen. Brauchen wir ein völlig neues, ein engeres Zusammenspiel zwischen Politik, Verwaltung und Bürgern?
Brandl: Ich setze Politik mit dem Begriff Gesellschaft gleich und bejahe ihre Frage aus voller Überzeugung. Wir werden insgesamt auch ein neues politisches Denken brauchen, das sich weniger in Ressortabgrenzungen erschöpft, sondern die Querschnittaufgaben projektbezogen angeht und löst. Diskussionen ja, hoher vernetzter Sachverstand sehr erwünscht, aber Entscheidungen sollten zeitnah getroffen und effizient und konsequent umgesetzt werden. Das wird die Herausforderung der künftigen Politik. Muster wie Stuttgart 21 werden nicht dazu beitragen, unser Land und unsere Kommunen überlebensfähig in eine wirtschaftlich und sozial positive Zukunft zu führen.
Hat die kommunale Ebene in ihren derzeitigen Strukturen, in ihrer Kleinteiligkeit und dem vielerorts vorzufindenden Kirchturmdenken, die Kraft und auch die Macht, vor Ort wirkenden Herausforderungen zu begegnen, die von globalen Entwicklungen geprägt sind oder von internationalen Konzernen ohne Rücksicht auf soziale Auswirkungen vorangetrieben werden?
Brandl: Kleinteiligkeit hat mit Blick auf die notwendige und wünschenswerte Identifikation der Bürger mit ihrer Kommunen, mit ihrer Polis, unschlagbare Vorteile. Richtig ist aber auch, dass Leistungsfähigkeit in Zukunft auch von einer gewissen Größe abhängen wird. Ob damit schon immer eine „Selbstentleibung“ im Sinne einer Aufgabe von Selbständigkeit zwangsläufig ist, wird nicht einheitlich zu beantworten sein. Ich bin aber davon überzeugt, dass die Zukunft weiter in einer selbstverwaltenden, überschaubaren und durchaus sehr heterogenen Größenstruktur unseres Landes und unserer Kommunen liegen wird. Dass ein Mehr an Zusammenarbeit nicht schadet, liegt auf der Hand.
Bedarf es, um die kommunale Ebene zu stärken und sie „zukunftsfest“ zu machen, nicht deutlich mehr Kooperation und möglicherweise auch andere Gebiets- und Verwaltungsstrukturen als heute?
Brandl: Mehr Kooperation selbstverständlich! Andere Gebietsstrukturen glaube ich nicht. Andere Verwaltungsstrukturen als die heute schon möglichen sicher nicht … Man muss sie halt auch nutzen und leben.
Interview: Wolfram Markus
Zur Person: Dr. Uwe Brandl (Jg. 1959) ist seit 1993 Erster Bürgermeister in Abensberg (rd. 13.300 Einwohner, Bayern) und seit Januar 2018 Präsident des Deutschen Städte- und Gemeindebundes (DStGB), der deutschlandweit über 11.000 Kommunen vertritt. Von 1990 bis zu seiner Wahl in das höchste Amt der Stadt Abensberg arbeitete der Rechtswissenschaftler als Rechtsanwalt in den Bereichen privates und öffentliches Baurecht, öffentliches Recht und Strafrecht. Seit 1998 gehört Brandl dem Präsidium des Bayerischen Gemeindetages an, 2003 wurde er als dessen Präsident gewählt. Neben vielen Auszeichnungen und Ehrungen trägt Brandl das Bundesverdienstkreuz. In der Fortentwicklung und Förderung der kommunalen Selbstverwaltung erwarb er sich großes Ansehen. Er ist als Autor in den Bereichen Kommunalpolitik und Lyrik tätig, seit 2013 hat er einen Lehrauftrag an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Amberg-Weiden. Brandl ist verheiratet und hat eine Tochter.