„Unperfekt starten, dann verbessern“

Eingang des Impfzentrums in Tübingen, das sich in der Paul-Horn-Arena befindet. Fotos: Kreis Tübingen/Maria Guizetti; Stadt Tübingen/Manfred Grohe

Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer hat bei der Eindämmung der Corona-Pandemie wiederholt eigene Wege eingeschlagen und alternative Lösungen gesucht. Die baden-württembergische Kommune dient seither oft als Modell für erfolgreiche Strategien. Im Interview berichtet er von den bisherigen Erfahrungen mit dem Impfen und erläutert, wieso wir bei der Bewältigung der Pandemie flexibler, mutiger und vor allem schneller sein sollten.

In Tübingen sind sowohl das Zentrale Impfzentrum des Regierungsbezirks (ZIZ) als auch das Impfzentrum auf Kreisebene (KIZ) zusammengefasst. Die organisatorische Verantwortung liegt beim Landkreis Tübingen – welche Rolle spielen dabei die Stadt und Sie als Oberbürgermeister?

Boris Palmer: Ursprünglich sollten das zwei getrennte Einrichtungen im Landkreis sein. Der Landrat und ich waren uns aber einig, dass das keinen Sinn ergibt. Ich habe daher in Stuttgart die Freigabe erwirkt, beides zusammenzulegen. Damit haben wir nun das leistungsfähigste Impfzentrum in ganz Baden-Württemberg. Leider war es wegen Impfstoffmangels nie mehr als 60 Prozent ausgelastet. Die Organisation des Impfzentrums liegt jetzt komplett beim Kreis, die Stadt Tübingen stellt nur die Halle und die Parkplätze.

Wie sind die bisherigen Erfahrungen mit dem Impfzentrum?

Palmer: Bei uns hat alles vor Ort hervorragend funktioniert. Der Landkreis macht da eine hervorragende Arbeit. Die allgemeinen Probleme hatten wir natürlich auch, Impfstoffmangel, Schwierigkeiten mit der Terminvergabe. Viele Menschen wollten da Hilfe von mir, aber darauf haben Stadt und Kreis keinen Einfluss.

Sie haben mit dem besonderen Schutz vulnerabler Gruppen und intensiven Testangeboten frühzeitig eine individuelle Strategie verfolgt, die als Tübinger Weg bekannt wurde. War das aufgrund besonderer Rahmenbedingungen in Ihrer Kommune erfolgreich oder lässt sich diese Strategie auch auf größere Städte oder den ländlichen Raum übertragen?

Palmer: Beides. Wir haben mit Lisa Federle eine Ärztin und Pandemiebeauftragte, die wahnsinnig engagiert ist und die Dinge einfach vorantreibt. Wir haben eine besonders engagierte Bürgerschaft und kaum Probleme mit Verschwörungstheoretikern und Maskenverweigerern. Und wir haben einen Gemeinderat, der immer bereit war, die notwendigen Mittel bereitzustellen. Das geht einfacher, weil Tübingen schuldenfrei ist und die Wirtschaft brummt. Aber grundsätzlich ginge das überall. Taxis zum Bus-Preis, Masken für Ältere verschicken, Tests in Altenheimen durchführen – das war kein Hexenwerk, man musste es nur wollen. Und so ist es auch jetzt. Wir haben einfach im Februar mit der Öffnung der Kitas und Schulen sofort angefangen, Selbsttests zu nutzen, und mittlerweile gibt es Schnelltests an sechs Stationen in der Innenstadt kostenlos. Schnelligkeit vor Gründlichkeit, unperfekt starten, dann verbessern, das muss man in der Krise wagen.

Mit Curevac haben Sie einen Impfstoffhersteller direkt vor Ort. Wie profitiert die Stadt Tübingen davon?

Palmer: Finanziell bisher noch nicht. Die Firma hat ja 20 Jahre nur Verluste gemacht, nur in Forschung und Entwicklung investiert. Aber natürlich wächst die Firma jetzt stark und schafft viele neue Arbeitsplätze. Tübingen profitiert wie die Welt von der neuen mRNA-Technologie, die sowohl Biontech als auch Moderna von Curevac abgeschaut haben.

Sollte Curevac zunächst nur für Deutschland produzieren, damit wir unseren Rückstand aufholen?

Palmer: Nein. Was uns aber helfen würde, wäre eine Notfallzulassung. Es besteht überhaupt kein Grund zu der Annahme, dass das Original schlechter wäre als die Kopie. Auf der Basis könnte man wie in den USA zulassen, weil der Nutzen größer als der Schaden ist. Die Verzögerung bei der europäischen Zulassung hatte bisher keinerlei Vorteil, es dauert nur alles länger. Auch hier stehen wir uns mit dem Wunsch, alle Vorschriften zu erfüllen, selbst im Weg.

Als Proband haben Sie selbst öffentlichkeitswirksam an einer Impfstudie von Curevac teilgenommen. Sollten sich ihrer Ansicht nach weitere Bürgermeister öffentlich impfen lassen, um die Akzeptanz der Impfkampagne zu befeuern?

Palmer: Nein, das produziert nur Neiddebatten. Das kann erst in Betracht kommen, wenn es mehr Impfstoff gibt als Impfwillige. Davon sind wir aber immer noch weit entfernt.

Interview: Dirk Täuber

 

Zur Person:
Boris Palmer (Grüne) ist Oberbürgermeister der Universitätsstadt Tübingen.