Dorfleben 4.0

Deutschland ist ein geteiltes Land: Prosperierenden ländlichen Teilräumen von Metropolregionen und mittelstädtisch geprägten ländlichen Regionen, die an Attraktivität gewinnen, stehen zentrumsferne strukturschwache Räume gegenüber. Kann Digitalisierung helfen, gleichwertige Lebensverhältnisse zu sichern?

Das Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse steht endlich wieder ganz oben auf der politischen Agenda. Dies ist sehr wichtig, denn die Unterschiede zwischen dynamischen Wachstumsräumen und strukturschwachen Regionen mit Bevölkerungsschwund sollen sich nicht weiter vergrößern. Sonst werden sich immer mehr Menschen abgehängt fühlen, da in ihren Regionen Arbeitsplätze und Einkommen unattraktiv sind, der Zugang zu Bildung, Ärzten und Kulturangeboten schlecht ist oder eine schnelle Verkehrsanbindung fehlt.

Die andere große Herausforderung besteht für die Städte und Gemeinden darin, die Umwälzungen zu gestalten, die die Digitalisierung mit sich bringt. Die neuen Technologien bieten viele Chancen, gerade auch für periphere Räume, etwa wenn es um das Arbeiten vom Homeoffice aus geht, um Telemedizin, Rufbusse oder Onlinehandel. Andererseits besteht die Gefahr, dass sich Wirtschaft und Bevölkerung künftig noch stärker auf die städtischen Metropolregionen konzentrieren, wo es bereits heute hochwertige Arbeitsplätze, qualifizierte Fachkräfte, ein attraktives Kultur- und Freizeitangebot und bessere Infrastrukturen gibt.

Was also können Kommunen tun, um von der Digitalisierung zu profitieren? Wie können diese in den Dienst einer funktionierenden Daseinsvorsorge und gleichwertiger Lebensverhältnisse gestellt werden? Welche Voraussetzungen sind dafür notwendig?

Gleichwertigkeit ist nicht Gleichheit

Es steht außer Frage, dass die Menschen nur dann langfristig in dünn besiedelten Räumen bleiben werden, wenn es dort schnelles Internet, attraktive Jobs, medizinische Versorgung, Verkehrs- und Bildungsangebote gibt. Wenn sie aber den Eindruck bekommen, es kümmert sich niemand um ihre Bedürfnisse und Probleme, wenden sie sich ab oder gehen sogar auf die Straße.

Klar ist auch: Gleichwertigkeit bedeutet nicht Gleichheit. Die Daseinsvorsorge kann und soll je nach Region durchaus unterschiedlich aussehen. Denn die Lage ist differenziert: Prosperierenden ländlichen Teilräumen von Metropolregionen und mittelstädtisch geprägten ländlichen Regionen, die aufgrund steigender Immobilienpreise und Mieten in den Kernstädten an Einwohnern gewinnen, stehen periphere, strukturschwache ländliche Räume gegenüber.

Für Eberswalde etwa, 60 Kilometer nördlich von Berlin, wurde noch vor wenigen Jahren mit 37.000 Einwohnern für das Jahr 2020 gerechnet. Aktuell wohnen in der Brandenburger Mittelstadt schon deutlich über 41.000 Menschen, Tendenz steigend. Auf der anderen Seite sehen sich viele zentrumsferne ländliche Gebiete mit einer schrumpfenden Bevölkerung konfrontiert. Knappe öffentliche Haushalte verstärken dabei die Problemlage.

Bund will Chancengleichheit

Politik und Fachöffentlichkeit haben die Herausforderung erkannt: Die Sicherstellung von Chancengleichheit ist im neuen Koalitionsvertrag verankert und wird mit der neuen Regierungskommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ angegangen. Auch spielen Klein- und Mittelstädte als Zentren der Daseinsvorsorge für den ländlichen Raum eine wichtige Rolle in den Leitbildern und Handlungsstrategien des Bundes; die Bedeutung polyzentrischer Landesentwicklungsstrategien und funktionierender Kooperationsstrukturen zwischen Stadt und Umland sind unbestritten.

Lösungen suchen

Wichtige Kriterien für eine gelingende digitale Transformation sind ein offener Umgang mit dieser sowie ein generelles Umdenken. Eine agstgetriebene Diskussion, wie wir sie in Deutschland oft erleben, die nur Probleme benennt, statt über machbare Lösungen zu sprechen, ist kontraproduktiv.

Doch nicht nur die Einstellung der Menschen ist entscheidend, sondern auch die „Hardware“, also der Breitbandausbau sowie der Mobilfunkstandard 5G. Hier rangierte Deutschland gemäß einer EU-Studie zum Glasfaserausbau in ländlichen Räumen im Jahr 2015 europaweit auf dem 22. Platz. Viel Luft nach oben also.

Weitere Grundvoraussetzungen, die im Zuge der digitalen Transformation geschaffen werden müssen, sind gemäß der Bertelsmann-Stiftung der Aufbau eines digitalen Rechts- und Ordnungsrahmens, das Vermitteln von digitalen Kompetenzen an Hochschulen, in der Verwaltung und in mittelständischen Betrieben, innovative kommunale Infrastrukturen sowie sktorübergreifende Zusammenarbeit.

Chancen für ärztliche Versorgung

Gesundheit ist vielen Menschen heute wichtiger als Erfolg und Freiheit – eine starke Verschiebung der Prioritäten im Vergleich zu früheren Jahren. Gerade strukturschwache ländliche Gebiete, die aufgrund ihrer Naturnähe mit einem gesunden Umfeld punkten können, leiden allerdings gleichzeitig unter Ärztemangel. Hier kann die Digitalisierung das Spiel wenden. Dafür müssen aber ortsunabhängige Gespräche mit dem Arzt möglich sein, wie sie etwa Online-Konsultationen ermöglichen.

Mobilität als Schmiermittel

Erreichbarkeit und die Sicherstellung von Mobilität ist eines der wichtigsten „Schmiermittel“, um die positive Entwicklung von Wachstumskernen in die Fläche zu bringen. Besonders relevant ist die Anbindung abgelegener Gebiete, etwa in Grenzgebieten oder im Hinterland von Ballungsräumen. Interkommunale Kooperationsformen und Stadt-Land-Partnerschaften können dabei helfen, die Standortvorteile von strukturschwachen Regionen neu zu bewerten. So kann zum Beispiel im Nahverkehr ein Strategiewechsel zum Haltefaktor für dünn besiedelte Regionen werden.

Landkreisübergreifendes Denken

Bei allen Differenzierungen zwischen Stadt und Land, zwischen peripheren und Ballungsräumen sollte eines nicht vergessen werden: 62 Prozent der Menschen in Deutschland sind Pendler und bewegen sich beinahe täglich zwischen diesen verschiedenen Raumtypen hin und her. Kommunale Zusammenschlüsse wie etwa die Metropolregion Nürnberg legen ihren Schwerpunkt deshalb generell mehr auf ein landkreisübergreifendes Denken. Gerade in ländlichen Gebieten der Metropolregion gibt es zum Beispiel viele familiengeführte Weltmarktführer, gleichzeitig herrscht Fachkräftemangel. Dem begegnet man mit flächendeckenden Bildungsbüros und Überlegungen zu Pendlerbussen, in denen gearbeitet werden kann. Auch Angebote wie das Arbeiten im Homeoffice können hier eine Lösung sein.

Beteiligung wagen

Nicht zuletzt bietet die Digitalisierung auch zahlreiche neue Möglichkeiten, die Bürger an Vorhaben und Planungen in ihrem direkten Wohn- und Lebensumfeld zu beteiligen. Gerade kleine Kommunen mit knappen Kassen und engagierten Bürgermeistern nehmen hier eine Vorreiterrolle ein. Deren Erfahrungen zeigen: Auch die Generation 60 plus ist digitalen Partizipationsformaten immer mehr zugeneigt. Kommunen sollten sich also durch eine ältere Bevölkerungsstruktur nicht davon abhalten lassen, die Einwohner in dieser Form anzusprechen und mitzunehmen. Allerdings müssen Städte sich klar darüber sein, wo sie mit einem Beteiligungsvorhaben hin wollen und wie die Digitalisierung das Leben vor Ort konkret verbessern kann – dann sind solche Vorhaben in der Regel auch von Erfolg gekrönt.

Generell gilt: Kommunen und Regionen müssen jetzt handeln und die digitale Transformation nach ihren Bedürfnissen gestalten – gerade, wenn sie dünn besiedelt oder strukturschwach sind. Es gilt, Kompetenzen, Strukturen und Modelle der Zusammenarbeit zu überprüfen und bei Bedarf neu auszurichten. Nur so kann die Digitalisierung in den Dienst gleichwertiger Lebensverhältnisse gestellt, können Unterschiede zwischen den Regionen verringert und der Druck auf die Wachstumsräume gestoppt werden.

Allerdings brauchen die Akteure in den Städten und Gemeinden ausreichende Unterstützung und finanzielle Mittel für die Gestaltung neuer, kreativer und lokal angepasster Lösungen. Die vom Deutschen Verband für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung gemeinsam mit weiteren Spitzenverbänden ins Leben gerufene „Kooperation digitale Städte und Regionen“ fordert deshalb die Etablierung eines Bundesprogramms, um die Kommunen bei den Transformationsprozessen angemessen begleiten zu können.

Jürgen Heyer

Der Autor
Dr. Jürgen Heyer ist Präsident des Deutschen Verbandes für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung in Berlin (Kontakt via Christian Huttenloher)

Info: Es geht was auf dem Land

Es ist wie überall: Ob auf dem „flachen Land“ etwas geht, hängt maßgeblich von „Machern“ ab, die es verstehen, Spielräume auszureizen und Innovationen für die Entwicklung der Gemeinden zu nutzen. So wie Christoph Meineke, Bürgermeister in der niedersächsischen Stadt Wennigsen. Er setzt auf Bürgerbeteiligung besonders über die digitalen Kanäle, hält die Einwohner mittels seines Bürgermeister-Blogs auf dem Laufenden. Als 2011 die Umgestaltung eines Wohngebiets zur Diskussion stand, forderte das Rathaus die Bevölkerung auf, dazu Ideen via Internet (sowie in Arbeitsgruppen) zu übermitteln. Das entfachte ein starkes bürgerschaftliches Engagement. Schon 2006, im Rahmen der Bürgermeisterwahl damals, hatte Meineke erfolgreich auf Social Media gesetzt. Als Einzelbewerber wurde er, ohne von einer Gruppierung unterstützt worden zu sein, ins Rathaus gewählt, schlug drei parteiangehörige Kandidaten aus dem Feld. 2014 bestätigten ihn die Bürger mit annähernd 90 Prozent im Amt.

Auch bei der ländlichen Mobilität kommt es für gute Angebote auf den Findungsreichtum der Zuständigen an. Die landeseigene Nahverkehrsservice Sachsen-Anhalt (NASA) etwa setzt auf eine höhere Taktung ihrer Hauptlinien. In den angefahrenen Ortschaften passte sie weiterführende Verkehrsangebote wie Anruftaxis oder Bürgerbuslinien an den Fahrplan des Servicebusses an. Ziel ist es, den Passagieren ein reibungsloses Umsteigen zu ermöglichen. Über Abfahrtsdaten können sich Fahrgäste per App informieren. Aktuell läuft der Test einer in Eigenregie entwickelten „Fahrer App“, die die Bereitstellung von Echtzeitdaten für die Disponenten und die Nahverkehrskunden verbessern soll.