Die lokale Rettung der Demokratie?

Die Unzufriedenheit mit der Politik steigt und die wahrgenommene Distanz zwischen Bürgern und politischer Elite verfestigt ein diffuses Ohnmachts- und Ungerechtigkeitsgefühl. Die kommunale Ebene ist der Ort, an dem unsere Gesellschaft wieder ins Gespräch kommen kann.

Gerät die liberale Idee der repräsentativen Demokratie zum Reparaturfall? Entfremden sich Gesellschaft und Politik immer stärker voneinander? Die letzten Wahlerfolge von Populisten haben diesen Eindruck gestärkt, denn das wichtigste Motiv für deren Wahl ist die Enttäuschung der Bürger über andere Parteien. Das gilt auch für Deutschland, selbst wenn nüchtern betrachtet das hiesige politische System vergleichsweise stabil ist. In der individualisierten Gesellschaft sind aber Parteien nicht mehr automatisch die Interessenvertreter tief verwurzelter Gesellschaftsgruppen.

Die Erwartungen an Politiker sind individueller, differenzierter und vielfältiger geworden. Gleichzeitig wurde das inhaltliche Angebot der Parteien immer ähnlicher. In der massenmedialen Darstellungslogik rücken Programme und Ideen ohnehin hinter Personen, inszenierte Konflikte und Skandale. Dieser Aufmerksamkeitsökonomie folgen Politiker in der Hoffnung, in einer immer volatileren Wählerschaft zu punkten. Das Paradoxe: Mit den kurzfristigen Punktsiegen steigern Politiker und Medien nachhaltig den Verdruss.

Mit den Bürgern sprechen

Damit Politiker in der Herrschaft des Volkes als legitime Vertreter wahrgenommen werden, müssen sie vor allem die Gesprächsstörung mit den Bürgern überwinden. Die Politik muss die Lebenswelt, die Bedürfnisse und die Wünsche der Bevölkerung verstehen und auf sie reagieren. Dieser Kommunikationsprozess wird in der Politikwissenschaft Responsivität genannt. Direkt übersetzt bedeutet responsiv zu sein, Antworten zu geben.

Dabei müssen Parteien und Politiker Grundbedürfnisse der Bürger befriedigen:

  • kognitiv – ob die Bürger die Welt, in der sie leben und handeln, verstehen,

  • emotional – ob sie das Gefühl für Sicherheit und Geborgenheit haben,

  • politisch – ob sie den Eindruck haben, dass es fair, gerecht, sozial, demokratisch zugeht,

  • partizipativ – ob sie sich einbringen und teilhaben können.

Politiker müssen den Bürgern zuhören und ihre Entscheidungen an den Bedürfnissen der Bürger ausrichten. Und sie müssen ihre Entscheidungen erklären, sich positionieren, für eigene Ideen werben und Zukunftsbilder entwickeln.

Die Städte und Gemeinden gelten als Schulen und Rettungsanker der Demokratie. Sie sind der Ort, an dem Bürger direkt mit Politik in Berührung kommen, der Ort, an dem sie pluralistische Interessenvermittlung, demokratische Entscheidungsfindung und -implementation in ihrem Lebensumfeld erleben und mitgestalten können.

Eine repräsentative Umfrage unter Bürgern im Ruhrgebiet zeigte, dass lokale Politiker in allen Bevölkerungsteilen deutlich responsiver bewertet wurden. Auf lokaler Ebene scheint das Gespräch zwischen Politik und Bürgern besser zu funktionieren. Müssen also Lokalpolitiker als Lehrer und Seenotretter der Demokratie fungieren?

Möglichkeiten der Kommunalpolitik

Eine solche Forderung überschätzt die Möglichkeiten der Kommunalpolitik. Zum einen lebt das positive Bild der Politiker aus der eigenen Stadt von der Abgrenzung zu höheren Ebenen: Hier vor Ort versteht man mich, aber die da Oben haben von mir doch keine Ahnung. Nicht zuletzt die niedrige Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen ist zudem ein Beleg dafür, dass sich Bürger zwar enorm für das Geschehen in ihrem direkten Umfeld interessieren, der lokalen Politik aber wenig Bedeutung zusprechen. Parteien bekommen am deutlichsten auf der lokalen Ebene den Mitgliederschwund zu spüren.

Die vielfältigen Möglichkeiten direkter Partizipation nehmen zuweilen Formen einer Anliegerdemokratie an, in der Betroffenheitspartizipierer mit befristetem Engagement langfristige Politikgestaltung überfordern. Hinzu kommt, dass sich in einer digitalisierten Umgebung gesellschaftlicher Austausch immer stärker vom Marktplatz in die digitale Sphäre verschiebt.

Trotzdem ist die kommunale Ebene der Ort, an dem unsere Gesellschaft wieder ins Gespräch kommen kann. Ein erster Schritt wäre, politische Konzepte in die Lebenswelt der Bürger zu übersetzen. Dazu gehört auch, dass die lokale Ebene eine stärkere institutionelle Rolle bekommt. Wenn man sie mindestens als erkennbare Beratungsinstanz stärkt, dann können auch lokale Akteure helfen, die wahrgenommene Distanz zwischen Politik und Bürger zu verringern. Das gelingt nicht, ohne die Handlungsfähigkeit der Kommunen wieder zu stärken – also finanzielle Gestaltungsspielräume zu ermöglichen und die kommunale Ebene von kostenintensiven Weisungsaufgaben zu befreien.

Prägendes Umfeld

Zum anderen konnte die Forschung zeigen, dass sich das Gefühl, von der Politik verlassen zu sein, in benachteiligten Vierteln mit sichtbarer sozialer Ungleichheit ballt. Interesse an Politik, Wahlbeteiligung oder auch die Unzufriedenheit mit der Politik hängen nicht allein an Merkmalen wie Bildung, Alter, Geschlecht, Einkommen oder Migrationshintergrund, sie werden auch von den Verhältnissen im direkten Umfeld beeinflusst. In Vierteln, in denen ein Gefühl der sozialen Isolation vorherrscht, ist Politik häufig kein Gesprächsthema mehr. Es gehen in diesen Vierteln auch unter den Einwohnern deutlich weniger zu Wahl, die über ein höheres Einkommen verfügen oder eine bessere Bildung genossen haben.

Hier werden zivilgesellschaftliche Akteure und Instanzen der politischen Bildung benötigt, die gezielt für die Werte der Demokratie werben und Politik wieder ins Gespräch bringen. Aber auch Parteien, die an Glaubwürdigkeit verloren haben, müssen in benachteiligten Vierteln sichtbar werden und die dort präsenten Probleme anpacken. Nur so kann man Menschen das Gefühl der Selbstwirksamkeit zurückgeben.

Es benötigt also gerade an diesen verlassenen Orten genügend Demokraten, die bereit sind, ihren Mitbürgern die Vorteile von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Weltoffenheit zu erklären. Diese Demokratieagenten müssen zeitgleich von der Politik als Bindeglieder der Gesellschaft ernst genommen werden.

Karl-Rudolf Korte

Der Autor
Dr. Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance, seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Regierungs-, Parteien- und Wahlforschung