Beteiligung der Basis

Die Annahme, dass kommunalpolitisches Handeln durch bürgerschaftliches Engagement gestärkt werden kann, ist weit verbreitet. Die Erwartung ist, dass Ratsentscheidungen dadurch billiger, besser, inklusiver und akzeptierter werden. Doch stimmt das auch? Was leistet das Leitbild Bürgerkommune?

Die Bürgerkommune gehört aktuell zu den wenigen Leitbildern, die Städten und Gemeinden eine demokratische Zukunftsperspektive bieten wollen. Wenn sonst von kommunalen Leitbildern die Rede ist, werden entweder einzelne Handlungsfelder betont (Dienstleistungskommune, nachhaltige, interkulturelle, vielfältige Kommune, Smart City) oder demokratische Gestaltungsansprüche zugunsten eines ökonomischen Vorrangs an den Rand gedrängt (unternehmerische Stadt). Vier Besonderheiten machen das Leitbild Bürgerkommune für lokale politische Debatten besonders interessant:

  • Es existiert seit etwa 20 Jahren und ist in zahlreichen Kommunen erprobt worden.

  • Es hat sich sowohl für ländliche Gemeinden wie für kleine und große Städte bewährt.

  • Es wendet sich an alle Akteure in der Kommune: Verwaltung, Politik, Bürgerschaft, Vereine, Organisationen sowie die örtliche Wirtschaft.

  • Es setzt auf Potenziale in der lokalen Gemeinschaft und ist in seiner Realisierung nicht von externen Leistungen und Transfers abhängig.

Das Leitbild verknüpft eine Reihe von bekannten Bausteinen kommunaler Praxis (Bürgerbeteiligung, Bürgerengagement, bürgerorientierte Verwaltung, Transparenz, Netzwerke), die in Reformnetzwerken von Pilotkommunen eingebracht, geprägt und erprobt wurden. Dieser Prozess hält an, wobei in jüngerer Zeit ein Schwerpunkt auf der weiteren Ausgestaltung der Bürgerbeteiligung durch kommunale Leitlinien und Beauftragte liegt.

Mit der verstärkten Zuwanderung von Geflüchteten hat zudem die Idee kollaborativer Netzwerke an Bedeutung gewonnen. Konkret geht es darum, wie das freiwillige Engagement und der gestaltende Einfluss von Engagierten am besten zu organisieren und mit kommunalen und kommerziellen Akteuren zu vernetzen ist, um seinen wichtigen Beitrag zur Gestaltung lokaler Politik – nicht nur im Bereich der Integration – dauerhaft zu garantieren.

Die Debatte über Bürgerkommunen ist bislang stark von einer praxisorientierten Dynamik geprägt. Analysen zu Reichweite und Umsetzung, zu Potenzialen und Stolpersteinen der Leitidee sind eher bescheiden geblieben. Die einzelnen Bausteine der Bürgerkommune sind in der Regel konzeptionell und strategisch in der kommunalen Praxis eher locker verknüpft und werden von Gemeinde zu Gemeinde mit unterschiedlichen Gewichtungen versehen. Die angestrebte Reformtiefe reicht von einer eher thematisch begrenzten, verwaltungszentrierten und schrittweisen Veränderung des Status quo kommunaler Selbstverwaltung bis zur ambitionierten demokratiepolitischen Erneuerung der lokalen Ebene, die möglichst alle kommunalen Akteure und Handlungsfelder einbezieht sowie eine Stärkung der lokalen Ebene im föderalen Gefüge anstrebt.

Zwei Phasen der Entwicklung

In der Entwicklung des Leitbilds lassen sich zwei Phasen unterscheiden. In der ersten Phase (Mitte der 1990er-Jahre bis 2004) wurden in vergleichsweise großen Städtenetzwerken (CIVITAS, „Kommunen der Zukunft“ u. a.) über mehrere Jahre zentrale Bausteine erarbeitet und publiziert. Die Schwerpunkte lagen auf einer bürgerorientierten Verwaltungsmodernisierung (Neues Steuerungsmodell, New Public Management) und der Förderung des bürgerschaftlichen Engagements. Anregend und unterstützend wirkte die Enquetekommission des Bundestags „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagement“. Nach einer Ruhephase wurde in diesem Jahrzehnt das Leitbild Bürgerkommune erneut aufgegriffen und aktualisiert.

Der Start in die zweite Phase wurde von massiven lokalen Infrastrukturkonflikten, Bürgerinitiativen und Bürgerentscheiden geprägt. In Reaktion darauf lässt sich in zahlreichen Kommunen ein beteiligungsorientierter Aufbruch beobachten, der vor allem auf eine frühzeitige informelle Bürgerbeteiligung setzt. Angeregt und unterstützt wird dieser partizipative Aufbruch durch einige Landesregierungen (vor allem Baden-Württemberg) und Bundesministerien (mit dem Umweltministerium als Vorreiter), aber auch durch Netzwerke, wie die Allianz für Beteiligung in Baden-Württemberg und die Allianz Vielfältige Demokratie auf Bundesebene, durch zahlreiche zivilgesellschaftliche Akteure und professionelle Zusammenschlüsse (VDI-Richtlinien, Juristentag-Gutachten) sowie eine vielfältige internationale Praxis der Bürgerbeteiligung mit zahlreichen Formaten in nahezu allen kommunalen Handlungsfeldern. Einen zusätzlichen Schub hat die Ausbreitung digitaler Kommunikation (E-Democracy und Online-Beteiligung) gegeben.

Diese Entwicklungen haben die Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmodernisierung zu einer Überarbeitung ihres Leitbilds „Bürgerkommune“ (KGSt 2014) bewogen. Eine von Praktikern und Vertretern kommunaler Spitzenverbände geprägte Arbeitsgruppe hat darin wesentliche Elemente des Leitbilds von 1999 aufgegriffen (Bürgerengagement, -beteiligung), mit „neuen“ Elementen des Open Government (Transparenz, Zusammenarbeit in Netzwerken) kombiniert und Qualitätsmerkmale für Beteiligungsprozesse und differenzierte Umsetzungsstrategien vorgeschlagen (u. a. einen Trialog von Politik, Verwaltung und Stadtgesellschaft) .

Bislang gibt es keine verlässlichen Studien, die Erfolge und Leistungen von Kommunen, die sich dem Leitbild Bürgerkommune verpflichtet wissen, im Unterschied zu anderen Kommunen bilanzieren. Immerhin gibt es einige Städte (wie Weyarn, Nürtingen, Viernheim, Arnsberg oder Potsdam), die eindrucksvolle Innovationen und Bilanzen vorlegen können. Das Netzwerk Engagierte Stadt ist mit Unterstützung des Bundes und einiger Stiftungen dabei, neue gute Beispiele hervorzubringen.

Die Grundüberzeugung, dass kommunalpolitisches Handeln durch bürgerschaftliches Engagement und Bürgerbeteiligung gestärkt werden kann, ist weit verbreitet. Verwaltung, Ratsmitglieder und Bürgerschaft erwarten mit unterschiedlichen Gewichtungen, dass Ratsentscheidungen dadurch billiger, besser, inklusiver und akzeptierter werden. Gerade in der Flüchtlingshilfe und der kommunalen Integrationspolitik haben sich kooperative, gelegentlich auch kollaborative Netzwerke bewährt und sind zum Standard geworden.

Grenzen des Modells

Trotzdem sind Bürgerkommunen nicht zum Selbstläufer geworden. Die Gründe dürften vielfältig sein. Auch eine Kommunalpolitik, die auf Bürgerengagement, Beteiligung und Netzwerke setzt, gibt es nicht zum Nulltarif. Oft fehlt den Kommunen das entsprechend qualifizierte Personal. Beteiligungs- und Moderationskompetenzen finden erst allmählich Eingang in die Verwaltungsausbildung. Wer stärker beteiligt, muss mit Konflikten rechnen, die es dann zu bearbeiten gilt. Bürgerschaftliches Engagement ist freiwillig und lässt sich nur begrenzt als Lückenbüßer einsetzen. Vielen Kommunen, besonders wenn sie unter Haushaltssicherung stehen, fehlen finanzielle und rechtliche Handlungsspielräume, ohne die eine Stärkung der Bürgerrolle nur geringe Chancen hat.

Nicht zuletzt erfordert das Leitbild Bürgerkommune ein verändertes Selbstverständnis der gewählten Ratsmitglieder. In diesem Sinn sollten sie sich stärker an der Organisation und Moderation von Engagement und Beteiligung der Bürgerschaft orientieren als an Parteivorgaben oder den Verheißungen des „freien Mandats“. Neuere Befragungen von Ratsmitgliedern zeigen, dass dieses partizipative Repräsentationsverständnis im Vormarsch ist. Damit sind auch einige der Baustellen benannt, die über die Zukunftsfähigkeit des Leitbilds Bürgerkommune entscheiden.

Paul-Stefan Roß / Roland Roth

Die Autoren
Dr. Paul-Stefan Roß ist Professor für Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit sowie Dekan Sozialwesen an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Heilbronn, Prof. Dr. Roland Roth, Berlin, ist Politikwissenschaftler und Bürgerrechtler

Info: Die Autoren dieses Beitrags, Paul-Stefan Roß und Roland Roth, publizieren unter anderem zum Thema Bürgerkommune. Ihr umfängliches Gutachten ist Teil der Fachbublikation „Engagement und Zivilgesellschaft. Expertisen und Debatten zum Zweiten Engagementbericht“, herausgegeben von Thomas Klie und Anna Wiebke Klie (Wiesbaden, Springer VS, 2018, S. 163-268, ISBN 978-3-658-18473-5; Reihe: Bürgergesellschaft und Demokratie)