Stuttgarter OB Kuhn: „Wir sind nicht in der Sackgasse“

Fritz Kuhn, Oberbürgermeister in Stuttgart, über mögliche Folgen des Urteils des Stuttgarter Verwaltungsgerichts zum Luftreinhalteplan für die Stadt, die lokale Umwelt- und Verkehrspolitik, den ÖPNV-Ausbau und das Ziel, mehr Urbanität mit weniger Autoverkehr zu erreichen.

Herr Oberbürgermeister Kuhn, wie geht es Ihnen – als grüner Rathauschef der deutschen Stau-Hauptstadt Stuttgart, jener Urzelle der automobilen Revolution, die nun sozusagen ihre eigenen Kinder frisst und der ein Verwaltungsgericht hinsichtlich des Gesundheitsschutzes ihrer Bürger den Weg weisen muss, weil sich die Politik offensichtlich um die Lösung der drängenden Probleme durch die hohe Feinstaub- und Stickoxidbelastung drückte?

Kuhn: Wen auch immer Sie damit meinen, ich jedenfalls habe mich nicht vor dem Thema gedrückt. Im Gegenteil! Seit ich im Amt bin gilt: Wir kehren nichts unter den Teppich, denn nur wer die Probleme beim Namen nennt, kann sie auch lösen. Deswegen haben wir bald nach meinem Amtsantritt das Programm „Nachhaltig mobil in Stuttgart“ aufgelegt. Es enthält eine Vielzahl von Maßnahmen, die wir seither sukzessive abarbeiten. Massiver Ausbau des Nahverkehrs, mehr Radwege, Investitionen in Elektromobilität und intelligente Verkehrsverflüssigung, ein verbilligtes Job-Ticket für den ÖPNV – das sind nur ein paar Beispiele. Und den Feinstaubalarm habe ich eingeführt, um die Schadstoffbelastung senken zu können. Damit haben wir ein Warnsystem, auf das sich Autofahrer einstellen können. Wir sagen ziemlich gut voraus, wann witterungsbedingt die Grenzwerte überschritten werden könnten. Richtig ist: Es gibt jetzt ein Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart, das schnelle Fahrverbote beinhaltet. Das Urteil ist aber noch nicht rechtskräftig, und die Landesregierung als Beklagte muss erst noch entscheiden, ob sie das Urteil akzeptiert oder anficht. Richtig ist aber auch: Der Bund und die Automobilindustrie sind ebenfalls in der Pflicht und müssen den Städten bei der Bewältigung der Schadstoffbelastung helfen.

Hat Sie das Urteil überrascht?

Kuhn: Es war nach der mündlichen Verhandlung zu erwarten, dass das Gericht dem Gesundheitsschutz der Bevölkerung eine sehr hohe Bedeutung beimessen würde. Das Urteil des Verwaltungsgerichts, ob es angefochten wird oder nicht, bedeutet in jedem Fall eine Stärkung für den Gesundheitsschutz.

Muss sich – neben der Landesregierung – die Stuttgarter Kommunalpolitik Versagen vorwerfen lassen? Immerhin werden in der Stadt seit 2010 die Luftschadstoffgrenzwerte überschritten, ohne dass dieser rechtswidrige Zustand beendet wurde …

Kuhn: Das Problem haben viele Städte in Deutschland, in Stuttgart ist es wegen der Kessellage in Teilen der Innenstadt nur besonders groß. Ich kann nur über die Zeit seit meinem Amtsantritt 2013 sprechen. Und seitdem versuchen wir, die Belastungen mit Feinstaub und Stickstoffdioxid zu verringern. Wir sind in Stuttgart schon deutlich besser geworden, aber noch nicht am Ziel. Deshalb gilt: Wir lassen nichts unversucht, die Luftqualität zu verbessern. Dazu zählt, dass wir getestet haben und nun fortsetzen, hochbelastete Straßen nass zu reinigen, um die Vorgängerprodukte von Feinstaub zu entfernen. Und wir probieren unter realen Bedingungen im Straßenverkehr aus, ob Moose Feinstaub absorbieren können – was im Labor immerhin schon erfolgreich war.

Auch wenn Sie es vermutlich nicht mehr hören können, weil Sie immer wieder daran erinnert werden: Eines Ihrer Wahlversprechen als Oberbürgermeisterkandidat lautete 20 Prozent weniger Autos in Stuttgart. Was haben Sie in Sachen Verkehrsreduzierung seit Ihrem Amtsantritt 2012 erreicht?

Kuhn: Ich habe damals formuliert, dass 20 Prozent weniger konventionell motorisierte Fahrzeuge im Stuttgarter Kessel anzustreben sind. Daran halte ich fest. Denn weniger Verkehr bedeutet nicht nur weniger Schadstoffe, sondern auch weniger Staus, weniger Stress und weniger Lärm, also mehr Lebens- und Aufenthaltsqualität in der City. Interessant ist doch, dass die Zahl der Fahrten mit Bus und Bahn zunehmen, von Jahr zu Jahr, in den vergangenen sechs Jahren um insgesamt 14 Prozent. Mit rund 376 Millionen Fahrten im Jahr 2016 lag das Wachstum bei 2,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr – das ist deutlich über dem bundesweiten Trend von 1,8 Prozent und Rekord in Stuttgart.

Dennoch ist der Anteil des motorisierten Individualverkehrs hoch. Was ist zu tun?

Kuhn: Für die Stadt Stuttgart haben wir nach dem aktuellsten uns vorliegenden Modal Split rund 45 Prozent Pkw-Anteil. Wichtig ist aber: Wir müssen die Alternativen zum Auto stärken und, wo sie dies noch nicht sind, zuverlässiger und leistungsfähiger machen. Wir werden deshalb unter anderem den Ausbau des Radverkehrs und des öffentlichen Nahverkehrs weiter vorantreiben. Aus Haushaltsüberschüssen des Jahres 2016 haben wir etwa fast 73 Millionen Euro für die Stuttgarter Straßenbahn AG vorgesehen, damit zum Beispiel neue Fahrzeuge angeschafft werden können. Wichtig ist auch, dass jeder Einzelne sein Mobilitätsverhalten hinterfragt: Muss es bei jeder Fahrt immer das Auto sein? Und: Kann nicht wenigstens der Zweitwagen ein E-Mobil sein?

Im bundesweiten Vergleich schneidet der Stuttgarter ÖPNV nicht besonders gut ab und die Tickets sind vergleichsweise teuer. Wurde Verkehrspolitik zugunsten des Autos gemacht?

Kuhn: Einspruch! Der ÖPNV in unserer Stadt ist sehr attraktiv, das belegen ja gerade die deutlich steigenden Fahrgastzahlen, und zudem ist die Zufriedenheit mit dem Nahverkehr laut Bürgerumfragen sehr hoch! Wir haben in den vergangenen Jahren aber nicht nur das Jobticket eingeführt, sondern zusätzlich auch ein Sozialticket und ein Azubiticket. Damit wir noch besser werden, wird der Verkehrsverbund in Stuttgart und der Region mit einer Angebotsoffensive das Ticketsystem vereinfachen und attraktivere Angebote für Umsteiger schaffen. Gleichzeitig geht der Ausbau des Nahverkehrs weiter: mehr Busse, eine neue Schnellbuslinie, neue Stadtbahn-Linien, längere Züge, bessere Taktungen. Und eines ist klar, in einer Phase der Investitionen, in der wir den ÖPNV massiv ausbauen und attraktiver für die Bürger machen, können wir nicht gleichzeitig die Preise senken.

Welche Optionen hat Stuttgart angesichts dessen, dass Fahrverbote drohen?

Kuhn: Wir können Stand heute nicht sagen, ob und wenn ja, wie und wann es Fahrverbote geben wird. Der Stuttgarter Gemeinderat hat sich übrigens mehrheitlich gegen Fahrverbote ausgesprochen und der Blauen Plakette ab 2020 einmütig zugestimmt. Sollte es am Ende des Tages aber doch zu Fahrverboten kommen, so müssen alle wissen, dies würde für die Städte gravierende Probleme mit sich bringen. Es gibt ja gute Gründe, warum die Oberbürgermeister in Deutschland gegen Fahrverbote sind. Stuttgart ist eine wirtschaftlich starke Metropole mit sehr vielen Arbeitsplätzen etwa in der Industrie, im Handel und im Dienstleistungssektor, und wir können auch nicht den Wirtschaftsverkehr wie etwa Handwerker und Zulieferer lahmlegen. Ungeachtet der Diskussion um Fahrverbote werden wir unsere Bemühungen für bessere Luft in Stuttgart ungebrochen fortsetzen. Dazu gehört neben dem ÖPNV-Ausbau zum Beispiel auch die Verbesserung des Stadtklimas durch eine Stärkung der grünen Infrastruktur, also mehr Bäume und mehr Sträucher.

Jede Krise birgt auch eine Chance, heißt es. Wie lässt sich Ihrer Meinung nach Stuttgart aus der verkehrs- und umweltpolitischen Sackgasse herausmanövrieren? Als Wiege des Automobils, Standort international renommierter Fahrzeugmarken und des weltweit größten Automobilzulieferers sowie Hort schwäbischen Erfindergeistes – könnte Stuttgart da möglicherweise zum Nukleus der Entwicklung eines echten, für andere Großstädte beispielgebenden Umweltverkehrs werden?

Kuhn: Zunächst, wir sind in keiner Sackgasse, sondern auf einem sehr anspruchsvollen und mitunter steinigen Weg, den wir mit großem Engagement verfolgen. Wir sind eine Automobilstadt und wollen Mobilitätsstandort bleiben. Mein Ziel ist es, aus der autogerecht aufgebauten Stadt Stuttgart eine Stadt der nachhaltigen Mobilität zu machen: Mehr Urbanität mit weniger Autoverkehr. Das gelingt nicht von Mittwoch auf Donnerstag, sondern man muss in langen Zeiträumen denken. Gleichzeitig müssen wir das technische Know-how für die Transformation der Automobilgesellschaft aber nutzen und uns um Innovationen kümmern – zum Beispiel im Bereich der Elektromobilität. Unsere Region hat technologisch und ökonomisch die besten Voraussetzungen, um neue Modelle für die Mobilität von morgen zu entwickeln.

Interview: Wolfram Markus

Zur Person: Fritz Kuhn (geb. 1955 in Bad Mergentheim) ist seit 2013 Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Stuttgart. Kuhn studierte Germanistik und Philosophie. Politische Stationen waren ab 1984 der Landtag von Baden-Württemberg und der Deutsche Bundestag sowie der Bundesvorsitz von Bündnis 90/Die Grünen (2000–2002). Kuhn ist verheiratet und hat zwei Söhne.